25.09.2022

Filmserie

Freigeistige Rosamonde verdreht allen den Kopf

Am 11. September ist der Genfer Regisseur Alain Tanner gestorben – Keystone-SDA hat seinen 70er-Jahre-Klassiker «La Salamandre» mit heutigem Blick geschaut. Der Film ist ein Kind seiner Zeit und trotzdem unglaublich modern. Niemand spielt die trotzige Rebellin umwerfender als Bulle Ogier.

Dass die Filme von Alain Tanner auch international bekannt wurden, erstaunt nach der Visionierung seines Klassikers «La Salamandre» nicht. Als Teil der «Groupe 5» war Tanner in den 70er-Jahren zusammen mit vier weiteren Westschweizer Regisseuren – Claude Goretta, Michel Soutter, Jean-Louis Roy und Jean-Jacques Lagrange – ein Begründer der Schweizerischen Nouvelle Vague. Sein Spielfilm von 1971 ist ein Paradebeispiel für dieses neue Schweizer Filmschaffen: Verspielt, humorvoll und eigensinnig.

Aber der Film funktioniert auch ohne filmhistorisches Vorwissen bestens. Lässt man sich doch vom ersten Augenblick an von den spleenigen Charakteren verzaubern. Ein schöner Nebeneffekt ist das Schwelgen in einer vergangenen Zeit, als in Innenräumen geschlotet wurde und Telefonkabinen, Schreibmaschinen, Juxeboxes und ja, auch Instantkaffee zum Alltagsgut gehörten.

«Wenig Geschmack» am Berufsleben

Der Genfer Journalist Pierre (Jean-Luc Bideau) muss eine Zeitungsmeldung, ein sogenanntes Faits divers, über eine junge Frau, die angeblich ihren Onkel angeschossen hat, fürs Fernsehen zu einem Drehbuch verarbeiten. Literarische Schützenhilfe holt er sich von seinem Schriftstellerkollegen Paul (Jacques Denis). Pierre recherchiert und befragt Betroffene, Paul spinnt Geschichten um den Fall herum und lässt seiner Fantasie freien Lauf.

Als die Frau, um die es in ihrem Text geht, Rosamonde (Bulle Ogier), in Fleisch und Blut in den Alltag der beiden tritt und sie nicht mehr nur auf Papier besteht, wird es kompliziert.

Klar, dass die freigeistige und verführerische Rosamonde den beiden Männern den Kopf verdreht. Wer würde sich nicht in diese Frau verlieben, bezaubernd gespielt von Bulle Ogier, die so hinreissend zu ihrem Lieblingssong die Haare schüttelt und der Welt mit einer erfrischenden Trotzigkeit begegnet.

Zu einer wirklichen Ménage-à-trois à la «Jules et Jim» von Truffaut kommt es allerdings nicht. Dafür sind die drei irgendwie zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Pierre, der von sich eingenommene schlaksige Journalist, der meist verbissen an seiner Schreibmaschine sitzt. Paul, der melancholische Autor, der auf dem Land lebt und immer, wenn er traurig ist, mit Vibrato in der Stimme zu singen beginnt. Und schliesslich Rosamonde, die es keinen Monat bei derselben Arbeit aushält, nur das macht, was ihr gefällt und die innere Rebellin bei jeder Gelegenheit freien Lauf lässt und sei es nur, dass sie im Schuhgeschäft, wo sie arbeitet, den Kunden ungefragt die Beine massiert. «Sie hatte offensichtlich wenig Geschmack an dem, was man einen Beruf nennt», schreibt Paul über sie.

Sich der Arbeit, den Erwartungen der Gesellschaft zu entziehen, das ist ein für diese Zeit typisches Phänomen. Doch die bürokratische Realität klopft in «La Salamandre» in Form von zwei Beamten an die Tür. Die zwei schreibenden Bohèmiens kriegen sehr schweizerischen Besuch: Einmal von einem Inspektor des Zivilschutzes, der prüft, ob die Leute das rote Zivilschutzbüchlein immer noch besitzen. Später von einem Gebäudeverwalter, der vorbeischaut, um den Wert der Möbel einzuschätzen.

Ist das diese freie Liebe?

Tanners Film erzählt in jeder Einstellung von der Zeit, in der er entstanden ist. An den Wänden hängen Poster von Alain Delon und den Beatles, die alten Trams quietschen durch Genf und die Müllabfuhr streikt. Trotzdem wirken die Figuren unglaublich modern.

Befremdend wirkt einzig die Reaktion von Pauls Frau, die auf sein Geständnis, dass er mit einer anderen Frau geschlafen habe, nur lächelt und lapidar meint: «Das ist ein Zeichen, dass die Zeit vergeht. Du wirst halt alt.» Aber vielleicht ist das diese vielbeschworene freie Liebe von damals, die im heutigen Kontext etwas schwer nachvollziehbar ist.

Ein Kunstgriff, dessen Motivation nie ganz ersichtlich wird, ist die allwissende Erzählstimme, die einen immer wieder aus der ansonsten sehr realitätsnahen Erzählung herausreisst. Das Drehbuch stammt vom britischen Autor und Kunstkritiker John Berger.

Die Figuren im Kopf

Paul spricht mit seiner Frau, die Lyrikerin ist, einmal darüber, wie sich die Figuren, über die er schreibt, in seinem Kopf eingenistet haben: «Eine grosse Familie, ein verkorkster Onkel, ein Gewehr. Du mit deinen Gedichten, du fotografierst nur das Innere deines Schädels.»

Tanners «Salamandre» ist auch ein Film über die Kunst des Erzählens und darüber, was passiert, wenn die Fantasie auf die Realität trifft. Denn Rosamonde ist viel rätselhafter und vielschichtiger als die Frau, die sich zwei Männer am Schreibtisch ausgedacht haben. (sda/cbe)



Dieser Text von Sarah Sartorius, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

Das ist der zweite Teil einer losen Serie über ältere Schweizer Filme.



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