19.11.2022

Filmserie

Statt Blut klebt Schokolade an den Händen

Wie ist es, Schweizer Filme Jahrzehnte später nochmals anzusehen? Wie aktuell sind sie noch? Dürrenmatts Thriller «Es geschah am hellichten Tag» von 1958 verursacht heute noch Gänsehaut – nicht nur wegen seinem verstörenden Täter.
Filmserie: Statt Blut klebt Schokolade an den Händen
Der deutsche Schauspieler Heinz Rühmann spielt im Jahr 1958 fuer die Schweizer Praesens-Film die Hauptrolle in «Es geschah am hellichten Tag». (Bild: Keystone)

Die Kamera schwebt durch einen Wald, entlang eines Schattenmusters aus Stämmen. Wären die Bäume nicht schwarzweiss, könnte es fast ein heutiger Sonntagskrimi sein. Die ersten Sekunden von «Es geschah am hellichten Tag» von 1958 wirken für «Tatort»-Schauende vertraut. Jogger, Spaziergänger oder Pilzsammler, wer stolpert wohl über die Leiche im Unterholz?

Doch die Orchestermusik holt mich zurück in die Vergangenheit. Wenn in den Fünfzigerjahren eine Leiche gefunden wurde, sollte offenbar der Soundtrack mit solcher Lautstärke und Dramatik poltern, dass im Kino auch das turtelnde Paar in der hintersten Reihe nach vorn schaute. Inzwischen klingt Spannung subtiler.

«Immer im Wald»

Ich frage mich, während der Zeuge – ein Hausierer mit französischem Akzent – zwei Schnaps im Restaurant des Dorfs kippt und via Wandtelefon die Polizei ruft: Wie viele Krimis beginnen wohl in Wäldern? Nicht nur in fiktiven Fällen. Im Wald, in dem ich joggen gehe, wurde Anfang Jahr ein totes Mädchen gefunden. «Im Wald. Immer im Wald», bemerkt auch Filmkommissar Matthäi.

Der erste Teil von «Es geschah am hellichten Tag» gipfelt in einer Hetzjagd auf den unschuldigen Händler. Die Bewohner wollen ihn lynchen und die Polizei treibt ihn mit ihren Anschuldigungen in den Selbstmord. Schwer auszuhalten ist das.

Friedrich Dürrenmatt schrieb diesen Krimi über «Sittlichkeitsverbrechen» oder «Lustmorde» an Kindern, wie Sexualstraftaten damals genannt wurden. Der Aufklärungsfilm zum Thema war ein Auftrag der Schweizer Produktionsgesellschaft Praesens. Zwischen 1957 und 1958 schuf der Autor daraus neben der Erzählvorlage für das Drehbuch auch den Roman «Das Versprechen».

Enttäuschter Dürrenmatt

Die Buchfassung mit dem Untertitel «Requiem auf den Kriminalroman» ist stärker gefärbt vom düsteren Dürrenmatt’schen Grundton und seinem desillusionierten Menschenbild der Nachkriegszeit. Bei der schweizerisch-deutsch-spanischen Produktion «Es geschah am hellichten Tag» setzten Regisseur Ladislao Vajda, Hauptdarsteller Heinz Rühmann und Co-Autor Hans Jacoby einen positiveren Detektiv-Charakter und ein Happy End durch.

Matthäi wird zum Retter einer alleinstehenden Frau mit Tochter, die er heimlich für seine Undercover-Mission einspannt. Sein Versprechen an die Eltern des Mädchens, den Schuldigen zu finden, treibt ihn nicht in den Wahnsinn wie in «Das Versprechen» (2001 verfilmt als «The Pledge» mit Jack Nicholson). Das enttäuschte den Schriftsteller – Dürrenmatt vertrat das Credo, eine Geschichte sei «dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre schlimmstmögliche Wendung genommen hat».

Dennoch verursacht «Es geschah am hellichten Tag» 64 Jahre, nachdem er im In- und Ausland Kinos füllte, immer noch Gänsehaut. Da spielt es keine Rolle, dass seine Ästhetik und Effekte aus der Thriller-Mode geraten sind. Gruselig ist beispielsweise das erwähnte Vorgehen der Polizei gegen den Mann, der die Leiche findet. Ich denke bei diesen Szenen an rassistische Profiling-Programme und Fehlurteile von Geschworenengerichten in den USA im jetzigen Jahrhundert.

Phantom im Klassenzimmer

Zum Gruseln eignet sich dieser Krimi aber noch aus weiteren Gründen. Allen voran: der Täter, um dessen Suche der grösste Teil der Story kreist. Gert Fröbe mimte den Kindermörder namens Schrott mit Kasperlepuppe, Schokolade und piepsiger Stimme derart verstörend, dass er danach als Bond-Bösewicht für «Goldfinger» (1964) engagiert wurde.

Die Identität des Mörders kennt das Publikum ab der Mitte des Films, noch vor Matthäi. Langsam rückt der Polizist dem Phantom näher, unwissend, wie nah. Wie würden manche Krimis nur ohne den Suspense überleben? Die Hochblüte des Hitchcock-Stilmittels in den 50er-Jahren kam offensichtlich auch «Es geschah am hellichten Tag» zugute.

Bald ist klar, die richtige Fährte führt über eine Zeichnung, welche das Opfer im Klassenzimmer hinterlassen hat. Ein Phantombild in Form einer Kinderzeichnung – das kommt mir bekannt vor aus der ersten Staffel der Südstaaten-Serie «True Detective».

Keine Albträume

Ebenfalls keine neue Erfindung sind «Zufälle» im Drehbuch, die dem Schnüffler auf die Sprünge helfen. So sitzt der resignierte Kommissar im startklaren Flugzeug neben einem Mann, der Pralinen isst. Da erkennt er in den kleinen Kugeln einen entscheidenden Hinweis und sprintet hinaus. Und ich erkenne mit fortgeschrittener Ermittlung: Schokolade an den Händen kann schauerlicher sein als Blut.

Dass Gewalt nicht explizit gezeigt wird, ist ein Unterschied zu Krimis der Gegenwart. Was dem Verbrechen, das im Film mit unterdrückten (männlichen) Wut- und Schamgefühlen erklärt wird, nicht seinen Schrecken nimmt. Allerdings verfolgen mich nach diesem Krimiabend auch keine brutalen Bilder in den Schlaf. (sda/cbe)



Dieser Text von Céline Graf, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

Das ist der vierte Teil einer losen Serie über ältere Schweizer Filme.



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