«Dieser Aufschrei war vorhersehbar»

Migros - Migros‘ Experiment mit personalisierten Rabatten löste einen heftigen Proteststurm aus. Was hat der Detailhändler falsch gemacht? Und wie gefährlich ist die Forderung vom Konsumentenschutz? IMD-Marketingprofessor Stefan Michel erklärt, welche fairen Methoden es gibt, die höchstmögliche Zahlungsbereitschaft der Kunden abzuschöpfen.

von Edith Hollenstein

Herr Michel, sammeln Sie Cumulus-Punkte?
Ich habe eine Cumulus-Karte und selbstverständlich auch eine Supercard. Aus beruflicher Neugierde will ich wissen, wie diese Kundenkarten funktionieren. Ich trage mich auch online in Listen ein – natürlich mit veränderten Namen – um zu überprüfen, wie mein Profil verfolgt wird.

Seit September experimentiert Migros bei Cumulus-Karten-Besitzern mit einem Pilotprojekt, das das persönliche Einkaufsverhalten mit Rabatten belohnt. Stört es Sie, wenn Ihnen in der App andere Rabatte angezeigt werden als der Kundin vor Ihnen an der Kasse?
Ja, das stört mich, denn ich habe dann das Gefühl, weniger profitieren zu können als andere. Das zeigen auch Untersuchungen: Die Leute empfinden es als unfair, wenn unterschiedliche Kunden unterschiedliche Rabatte erhalten, ohne dass sie selber etwas dafür tun können, um das günstigere Angebot zu bekommen.

Machen Sie ein Beispiel?
Fair ist, wenn alle Kunden denselben Coupon erhalten. Sie können dann aber selber entscheiden, ob sie den Aufwand betreiben wollen, ihn einzulösen. Wenn gewissen Kunden der Gruppe A aber andere Coupons angeboten werden als Kunden der Gruppe B und die einen sozusagen bestraft werden, weil sie immer das gleiche Produkt kaufen und dafür einen höheren Preis zahlen müssen, ist das nicht fair.

Individuelle Rabatte bedeuten eigentlich individuelle Preise. Ist es nicht ungeschickt von Migros-Chef Herbert Bolliger, wenn er abstreitet, personalisierte Preise eingeführt zu haben?
Herr Bolliger weisst zurecht darauf hin, dass nicht alle Coupons für alle Kunden gleich relevant sind. Seine Argumentation ist, dass die Absicht der Migros nicht in den personalisierten Preisen, sondern in personalisierter Werbung liegt.

«Reiche bezahlen am Schluss mehr», titelte die «NZZ am Sonntag»: Stimmt diese Befürchtung?
Der Titel ist etwas reisserisch, weil «Reichtum» nicht als Merkmal bei Cumulus gespeichert ist. Aber in der Tendenz stimmt die Aussage: Kunden mit höherer Zahlungsbereitschaft sollen mehr zahlen und sollen teurere Produkte kaufen.

Hätte Migros den Protest-Sturm verhindern können?
Wahrscheinlich haben sie das unterschätzt. Noch wahrscheinlicher ist, dass Migros genug realistisch ist und einfach mal testet, um zu schauen, wie die Konsumenten reagieren. Gibt es zu viel Widerstand, krebst man einfach wieder zurück. Mich überrascht das Vorgehen von Migros und Coop. Die beiden Unternehmen besitzen so grosse Menge an Daten und hätten es daher gar nicht nötig, die Leute zu verärgern mit personalisierten Rabatten.

Was wäre die Alternative?
Sie könnten ja einfach allen Kunden dieselben Rabatte geben, denn sie wissen ja genau, welcher Kunde an welchem Tag welchen Rabatt einlösen wird und welcher Kunde nicht. Wenn ein Rabatt an eine bestimmte Bedingung geknüpft wird, ist er fair. Wenn er an eine bestimme Person geknüpft wird, ist er unfair. Migros hätte die Rabatte nicht personalisieren sollen, besser wäre es, gezielt zu steuern, so dass bestimme Leute den Rabatt einlösen und andere nicht. Man könnte alle Coupons auf die App laden, und ich könnte dann die ersten dreissig Coupons wegklicken, wenn ich sie nicht nutzen will.

Migros hat ja versucht, die persönlichen Coupons als etwas positives, als Geschenk dazustellen. Aber auch das goutierten die Konsumenten nicht.
Diese Discountstruktur wird durchschaut. Die Medien haben das zu Recht aufgegriffen und transparent gemacht. Für mich war dieser Aufschrei vorhersehbar und wäre eigentlich vermeidbar gewesen. Die Detailhändler hätten wie gesagt die Daten anders nutzen können, und damit verhindert, dass sich die halbe Schweiz in Aufruhr versetzt.

Wie lukrativ ist denn Personal Pricing für den Detailhandel: Sind tatsächlich Margensteigerungen von zehn Prozent möglich?
Genaue Zahlen habe ich hierzu nicht. Aber es gibt eine vielversprechende Logik: Wenn Sie den Jahresbericht von Migros nehmen und dann die EBIT-Marge anschauen, beträgt diese etwa vier Prozent. Wenn Migros dann die Preise im Durchschnitt um ein Prozent erhöhen kann, wirkt das besonders stark. Denn ein Prozent von vier sind 25 Prozent. Über eine Preissteigerung erhält ein Unternehmen einen viel grösseren Hebeleffekt als über eine Mengensteigerung. In diesem Fall hat eine Preiserhöhung einen 25-fachen Hebeleffekt.

Gibt es andere Varianten, um die höchstmögliche Zahlungsbereitschaft abzuschöpfen?
Selbstverständlich. Nur alleine durch die Eliminierung durch «stupid discounts» kann die Marge in vielen Branchen um ein  Prozent gesteigert werden. Spezifische Zahlen für Schweizer Grossverteiler kenne ich nicht.

Was sind «stupid discounts»?
Es gibt gute und schlechte Rabatte. Bei den schlechten wird zum Beispiel ein guter Kunde diskrimiert, weil er nett ist, - also anders als andere Kunden nicht aufdringlich ist und reklamiert, sondern anständig ist. Wenn ich nun als Migros-Kunde mehr für Guetzli zahlen muss als andere Kunden, weil ich aufgrund meiner über Cumulus aufgezeichneten Daten als besonders kaufkräftig eingestuft werde, ist das unfair. Fair ist hingegen, wenn es beispielsweise Rabatte für Einkäufe am Donnerstag gibt. Diese Rabatte empfindet ein Kunde fair, denn er kann selber entscheiden, ob er die «Strafe» auf sich nehmen und profitieren will. Gute Kunden dürfen nicht dafür bestraft werden, dass sie gute Kunden sind.

Ist es richtig, wenn Migros diejenigen Kunden besonders viel zahlen lässt, die keine Cumuluskarte haben?
Ohne Cumuluskarte erhalten Sie gewisse Rabatte nicht. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es Kundengruppen gibt mit sehr tiefen Einkommen, die die Cumuluskarte nicht verstehen und nicht nutzen. Wenn diese Kunden bei der Migros M-Budget-Produkte einkaufen, bezahlen sie schliesslich weniger für den Warenkorb als Cumulus-Nutzer.

Wie gefährlich ist für die Migros die Forderung des Konsumentenschutz?
Die Forderung des Konsumentenschutz addressiert den Datenschutz, aber nicht die Preisunfairness. Nehmen wir an zwei Kunden kaufen Ananas, jemand zahlt aber zwei Franken weniger als der andere. Jetzt fordert der Konsumentenschutz beim tieferen Preis die Deklaration, warum der andere zwei Franken weniger zahlen muss. Das hilft doch nicht! Denn der mit dem Rabatt zahlt ja weniger, der ist nicht wütend. Wütend ist derjenige, der zwei Franken mehr bezahlt – bei ihm aber ist nichts deklariert.