«Ein Seitensprung ist Privatsache»

Fall Christophe Darbellay - Der CVP-Politiker wird zum vierten Mal Vater – dies wegen einer Affäre. Dass der «SonntagsBlick» diese Geschichte auf der Front gebracht hat und viele andere Medien die Story aufgegriffen haben, findet die Zürcher Medienanwältin Rena Zulauf «befremdlich». Ein Gespräch über Moral, schalldichte Telefonkabinen und François Mitterand.

von Christian Beck

Frau Zulauf, in den letzten Tagen diskutierte die ganze Schweiz über das Sexleben von Christophe Darbellay. Gibt es heute kein Tabuthema mehr?
Es hat mich auch befremdet, dass die Geschichte dermassen breit getreten worden ist. Allerdings sieht es danach aus, dass es Christophe Darbellay war, der sich für die Flucht nach vorne entschieden hat und die Öffentlichkeit von sich aus gesucht hat. Fraglich in diesem Zusammenhang ist medienrechtlich einzig, ob ihm die «SonntagsBlick»-Redaktion auf den Fersen war und ein Statement einforderte oder ob er von sich aus die Öffentlichkeit suchte.

Und in aller Öffentlichkeit hat sich Christophe Darbellay dann für seinen Seitensprung entschuldigt…
Das Statement «Ich habe einen schweren Fehler gemacht» ist bemerkenswert. Dass sich Christophe Darbellay für ein solches Zitat entschieden hat zeigt, dass man heute als exponierte Person öffentlich Busse tun muss wegen eines Seitensprungs. Nur so scheint es zu gelingen, die Reputation wieder einigermassen herzustellen. Ob Darbellay tatsächlich einen schweren Fehler gemacht hat, ist einzig von ihm und seiner Frau unter vier Augen zu beurteilen. Es ist nicht an der Öffentlichkeit, einen Seitensprung zu beurteilen, und es gibt auch kein öffentliches Interesse an Moralisierung eines Seitensprungs einer exponierten Person.

Ist Ihnen ein ähnlicher Fall bekannt, wo derart Privates eines Politikers an die Öffentlichkeit gebracht wurde?
Ich erinnere bei solchen Fällen immer gerne an den ehemaligen französischen Präsidenten François Mitterand. Von einem Journalisten auf seine uneheliche Tochter angesprochen, antwortete dieser schlicht: «et alors?». Daraufhin ertönte in der ganzen Nation «et alors!», und die Franzosen waren stolz, dass sie Privates und Moral vom öffentlichen Leben so vorbildlich trennten. Es ist betrüblich, dass diese Zeiten vorbei zu sein scheinen, und ich bedauere zutiefst, dass das öffentliche Moralisieren eines Einzelfalls wieder Einzug in die öffentliche Kommunikation hält.


Christophe Darbellay. (Bild: Keystone)


Zurück zum Fall Darbellay: Er ist aus dem Nationalrat aus- und als CVP-Parteipräsident zurückgetreten. 2017 will er in den Walliser Staatsrat. Gilt er da überhaupt noch als Person des öffentlichen Interesses?

Er gilt zweifelsohne als Person des öffentlichen Interesses. Doch haben auch Personen des öffentlichen Interesses einen Anspruch auf Respektierung der Privatsphäre. Der Schweizerische Presserat drückte diesen Grundsatz einst in einer alten Richtlinie trefflich wie folgt aus: «Journalistinnen und Journalisten können davon ausgehen, dass Prominente nicht daran interessiert sind, anders behandelt zu werden, als die Medienschaffenden selber an deren Stelle behandelt werden möchten.»

Er ist also noch eine Person des öffentlichen Interesses, aber ist ein uneheliches Kind von öffentlichem Interesse?
Nein. Von öffentlichem Interesse ist einzig das politische Engagement von Christophe Darbellay, nicht sein Privatleben.

Sie sagen, auch öffentliche Personen haben Anspruch auf Respektierung der Privatsphäre. Wurden mit dieser Geschichte allenfalls Persönlichkeitsrechte verletzt? Oder ist sie legitimiert, weil Darbellay dem SoBli Statements abgegeben hat?
Das Familien- und Intimleben ist durch den Privatsphärenschutz umfassend geschützt. Seitensprünge gehören der Privatsphäre an. Ob vorliegend Persönlichkeitsrechte verletzt worden sind, beurteilt sich daran, ob die Kommunikationsoffensive von Christophe Darbellay ausgegangen war, mit anderen Worten, ob er sein Einverständnis in die Veröffentlichung einer privaten Angelegenheit gegeben hat.

Das heisst, wenn Darbellay keine Stellung hätte nehmen wollen, hätte die Story auch nicht publiziert werden dürfen…
Meines Wissens hat sich Christophe Darbellay nie zu Moralfragen im Zusammenhang mit individuellem intimen Verhalten geäussert. Aus diesem Grund wären in diesem Fall meines Erachtens seine Persönlichkeitsrechte verletzt, namentlich das Recht auf Respektierung der Privatsphäre.

Darbellay liess stets die Öffentlichkeit an seinem Familienleben teilhaben, präsentierte sich als guter Familienvater, zeigte auch seine Kinder in der Presse. Hat er deshalb damit rechnen müssen, dass auch ein solcher Seitensprung nun von den Medien aufgegriffen wird?
Er hat insofern damit rechnen müssen, als die Öffentlichkeit und die Medien neugierig sind. Aber ich gehe mit der CVP einig, dass die Angelegenheit mit der Partei, dem politischen Leistungsausweis von Christophe Darbellay und seinen Fähigkeiten als Politiker nichts zu tun haben, sondern absolut privater Natur sind.

Also ist er auch nicht «selber schuld» und hätte schon in der Vergangenheit sein Privatleben besser schützen sollen?
Nein, ganz und gar nicht. Wir sollten uns vielmehr auf die Prinzipien der Aufklärung besinnen und das öffentliche Leben wieder strikte von der privaten Moral trennen.

Sie beobachten also, dass zunehmend Privates an die Öffentlichkeit gezerrt wird?
Ja, ganz klar. Noch in den 80er-Jahren protestierten zahlreiche Schweizerinnen und Schweizer in Folge der Fichen-Affäre gegen die Volkszählung und die Erhebung von privaten Daten durch den Staat. Es ist noch nicht lange her, da telefonierten wir in Telefonkabinen. Diese waren schalldicht isoliert. Wer die Kabine betrat, konnte von aussen nicht mehr gehört werden. Heute wird überall und für jedermann gut hörbar Privates telefonisch verhandelt.

An was könnte das liegen?
Namentlich Social Media hat das Verhältnis zum Privatsphärenschutz radikal verändert. Es ist mit Blick auf vorstehende Beispiele doch einigermassen erstaunlich, wie viele Personen heute freiwillig und initiativ Privates öffentlich zur Schau stellen. Damit einher gehen Erklärungen wie zum Beispiel von Facebook-Gründer Mark Zuckerberg, der das Zeitalter der Privatsphäre als endgültig vorbei bezeichnete. Oder Internet-Aktivisten wie Julia Schramm, die den Privatsphärenschutz als «so was von Eighties» charakterisieren.

Wo gibt es eigentlich Grenzen? Wann müsste ein Medium sagen: «Diese Geschichte bringen wir nicht»?
Grenzen sind auf jeden Fall immer dann vorhanden, wenn das Recht eine Grenze zieht. Auf diese Grenzen haben wir uns als Gesellschaft in demokratischen Prozessen geeinigt. Die Privatsphäre ist grundsätzlich absolut geschützt, das heisst, dass ausschliesslich relevante und für die Meinungsbildung wesentliche öffentliche Interessen eine Verletzung der Privatsphäre rechtfertigen.

Was passiert, wenn Journalisten diese Grenzen überschreiten?
Das liegt grundsätzlich im Ermessen des Betroffenen. Die betroffene Person kann dagegen protestieren, zum Beispiel mittels eines Protestschreibens, mit kommunikativen Mitteln reagieren oder rechtliche Mittel ergreifen. Die Möglichkeiten sind mannigfaltig und müssen im Gespräch und bezogen auf den Einzelfall eruiert werden.


Die Rechtsanwältin Rena Zulauf ist Gründerin und Partnerin von Zulauf Partner, Zürich. Sie vertritt vor allem Kläger gegen Medien. Ausserdem ist sie Lehrbeauftragte für Medien- und Kommunikationsrecht.