Leser sehen nach Londoner Attentat grau

NZZ-Gruppe - Das «St. Galler Tagblatt» und die «Luzerner Zeitung» haben auf eine Berichterstattung über den jüngsten Terroranschlag verzichtet. Stattdessen erschien eine graue Seite «im Gedenken an die Opfer». Superchefredaktor Pascal Hollenstein erklärt gegenüber persoenlich.com, warum genau jetzt dieses Zeichen gesetzt wurde.

von Christian Beck

Erneut wurde Grossbritannien von einer Terrorattacke erschüttert. Die Tat fand am Pfingstsamstag mitten im Zentrum von London statt. Bilanz: über ein halbes Dutzend Tote und rund 50 Verletzte. In der Dienstagsausgabe des «St. Galler Tagblatts», der «Luzerner Zeitung» sowie den Partnerzeitungen ist praktisch nichts darüber zu lesen. Dort, wo die Berichterstattung über das Londoner Attentat hätte erscheinen sollen, prangt stattdessen eine dunkelgraue Seite. Unter dem Seitenkopf «Terror in London» auf Seite 3 steht ein einziger Satz: «Im Gedenken an die Opfer des islamistischen Terrors verzichten wir hier auf eine Berichterstattung.»

Im Leitartikel auf der Frontseite werden unter dem Titel «Der Terror und wir» die Beweggründe zu diesem ungewohnten Schritt erklärt. «Terror ist nicht zur Normalität, aber längst zur Routine geworden», schreibt Pascal Hollenstein, publizistischer Leiter der NZZ-Regionalmedien. Die Medien hätten für die publizistische Begleitung von Terroranschlägen ein mehr oder weniger fixes Drehbuch entwickelt. Nach dem Terror folge der Push auf die News-App, dann der News-Ticker, der erste Kommentar, die Hintergrundgeschichten über Täter und Milieu, Spekulationen über das Vorwissen der Geheimdienste, Experteninterviews und so weiter. «Und dann folgt: das Vergessen. Bis zum nächsten Anschlag.» Nicht nur die Journalisten, auch die Leser hätten eine beängstigende Routine entwickelt. «Terror ist längst kein Strassenfeger mehr», so Hollenstein weiter.

Anstoss zu einer Debatte erhofft

Eine Zeitung halte jeden Tag einmal die Uhr an und frage sich: «Was ist wirklich wichtig?». So auch diesmal. «Die Täter waren Islamisten, es gab Tote. Mehr braucht man im Grunde nicht zu wissen», kommentiert Hollenstein in der Zeitung. Die leere Seite sei ein kleiner Anstoss zur Debatte mit den Lesern, der Politik und mit Vertretern anderer Medien.

«In der medialen wie auch der politischen Abarbeitung von solchen Terrorereignissen gibt es eine gewisse Abstumpfung und Ritualisierung», bekräftigt Hollenstein auf Anfrage von persoenlich.com. Man müsse nun über grundsätzliche politische Fragen diskutieren, wie beispielsweise Integrationsfragen. «Man muss die Gründe, die zu solchen Terroranschlägen führen, intensiver beleuchten – statt in dieser gehetzten Manier den eigentlich immer gleichen Journalismus zu machen», so der Superchefredaktor. Das sei eine Aufgabe, die man anpacken sollte. «Da erhoffe ich mir, in der Debatte wenigstens einen Denkanstoss gegeben zu haben. Wir als Journalisten müssen uns genau bewusst sein, was wir eigentlich mit diesem Thema machen.»

Die ersten Reaktionen auf die leere Seite seien «alle positiv, wirklich alle». Gegen 100 Lesermails hätten ihn bis Dienstagmittag während einer Retraite auf der Schwägalp erreicht, sagt Hollenstein.

Idee entstand schon vor längerer Zeit

Der Entscheid, dem jüngsten Terroranschlag keine Plattform zu geben, stand schon länger fest. «Wir hatten schon bei den letzten Terroranschlägen den Eindruck, dass die mediale Verarbeitung irgendwann zur Gewohnheit wird. Deshalb entschlossen wir uns, beim nächstgrösseren Anschlag eine solche Seite abzudrucken. Und jetzt haben wir es gemacht», sagt Hollenstein zu persoenlich.com. Personalmangel sei sicher nicht der Grund dafür gewesen. «Auch über Pfingsten hatten wir Mitarbeitende, die das hätten umsetzen können. Wir hatten auch Texte von Korrespondenten für die Seite. Wir hätten problemlos eine Doppelseite stemmen können.» Der Entscheid sei bewusst gewesen. «Ich ging dann ins Büro statt in die Pfingstferien.»

Der Produktionsstandort gewisser Seiten wechselt monatlich ab zwischen St. Gallen und Luzern. «Konkret diese Seite 3 wurde in Luzern produziert. Der visuelle Blattmacher – sozusagen der Art Director – kam auch noch ins Büro und hat die Seite angeschaut», sagt Hollenstein weiter. Es sei dann diskutiert worden, ob die Seite «hart in Schwarz» erscheinen solle. «Die erste Idee war: Weiss lassen. Aber das sieht dann nach einem Fehler aus.» Schliesslich sei der Entscheid auf einen Grauton gefallen. Hollenstein: «Ich finde es schön gelöst.»

In dieser Form sei diese Aktion «sicher eine einmalige Sache gewesen». Man könne aber beim Zeitungsmachen nie genau sagen, was man in welcher Situation genau mache. «Ich hoffe nicht, dass es irgendwann zu einer Situation kommt, in der wir zu noch drastischeren Mitteln greifen müssen», gibt Hollenstein zu bedenken.

Auch bei den NZZ-Regionalmedien kehrt der Alltag gewissermassen wieder ein: «Ab Mittwoch wird die ordentliche Berichterstattung wieder aufgenommen», heisst es in einer Medienmitteilung.