«Am Sonntagnachmittag um 14 Uhr Ortszeit geschah, was viele erwartet hatten. US-Präsident Joe Biden (81) zog sich als Kandidat für eine zweite Amtszeit im Weissen Haus zurück. […] Ein Abgang, der nicht zu vermeiden war. […] Seit dem für Biden desaströsen TV-Duell vor vier Wochen sanken seine Umfragewerte. Parteifreunde schossen hinter vorgehaltener Hand gegen ihn, andere forderten ihn offen zum Rückzug auf. Selbst sein ehemaliger Vorgesetzter, Ex-Präsident Barack Obama (62), meinte, Biden könne Donald Trump (78) nicht schlagen. Der Rückzug dürfte innerhalb der Demokraten einen heftigen Streit auslösen. Es geht um die Frage, wer dafür verantwortlich ist, dass die Partei Biden überhaupt als Kandidaten zugelassen hat. Warum hat es niemand geschafft, ihn noch vor den Vorwahlen dazu zu bringen, den Stab an seine Vizepräsidentin Kamala Harris (59) zu übergeben?»
«Bidens Markenzeichen in seiner ganzen Karriere ist, dass er immer wieder Rückschläge überwand und selbst aus ausweglosen Situationen herausfand. Diesmal sollte es anders sein. Spätestens als Schwergewichte der Partei wie Ex-Präsident Barack Obama oder Partei-Doyenne Nancy Pelosi Zweifel äusserten, lief die Zeit gegen Biden. […] Dass der 81-Jährige nicht früher erkannt hat, dass er Platz machen sollte, ist unverständlich. Er konnte einfach nicht loslassen. Dass er es dennoch tat, hat womöglich weniger damit zu tun, dass er das «Beste für das Land» will, wie er schreibt - denn dann hätte er es früher tun müssen. Sondern damit, sein eigenes Vermächtnis und den eigenen Ruf zu retten. […]»
«Ob mit Harris oder einem anderen Kandidaten – die Demokraten müssen nun Historisches leisten, um die Präsidentschaftswahl im November zu gewinnen. Noch nie in der amerikanischen Geschichte ist ein Präsident so spät aus dem Rennen um das Weisse Haus ausgestiegen. […] Die 59-jährige Harris könnte den Amerikanern den Generationenwechsel anbieten, den sich alle wünschen. Vor allem wenn sie sich etwa einen noch jüngeren, moderaten und weissen Mann wie den Gouverneur von Pennsylvania, Josh Shapiro, zur Seite stellen würde, könnte sie damit eine breite Wählerschicht ansprechen. Sie mag vielleicht nicht die stärkste Kandidatin sein, aber um Trump zu schlagen, könnte es womöglich dennoch reichen. Biden pflegte selbst zu sagen: «Vergleicht mich nicht mit dem Allmächtigen, vergleicht mich mit der Alternative. […]»
«Es hat viel zu lange gedauert, bis Joe Biden endlich dazu gezwungen wurde, diese Realität einzugestehen. Statt eine Nachfolge aufzubauen, die seine Erbschaft und sein Andenken gesichert hätte, würgte er bei den Vorwahlen die Diskussion einfach ab, um sich eine weitere Amtszeit zu sichern. Biden machte damit das ganze Land zum Opfer seines übersteigerten Gefühls eigener Grösse, um nicht das Bild des Grössenwahns zu bemühen. Er hinterlässt den Demokraten nun die schwierige Ausgangslage, nicht einmal vier Monate vor den Wahlen eine neue Kandidatur aufzubauen. Mit Erfolg wurde eine solche Taktik in der US-Geschichte bisher noch nie belohnt. Aber die Geschichte muss sich nicht unbedingt wiederholen.»
«Dieser Schritt muss ihm unendlich schwergefallen sein. Fast ein halbes Jahrhundert hatte Joseph R. Biden auf den Einzug ins Weisse Haus hingearbeitet. 2020 hatte er es endlich geschafft, und nun hätte er gerne noch etwas mehr Zeit dort verbracht. In den letzten Tagen aber wurde der Druck auf ihn so gross, dass er keine andere Wahl hatte als den Rückzug. […] Nun haben die Demokraten wieder eine echte Chance, den «Halbgott» der Republikaner zu besiegen. Trumps «Läuterung» nach dem Nahtoderlebnis vor einer Woche war von sehr kurzer Dauer. Das zeigt seine Reaktion auf Bidens Rückzug, die null Respekt und viel Hass enthält. Trump bleibt Trump, und allein deshalb kann man ihn im November schlagen. […]»
«Ja, die Zeit ist knapp geworden für die Demokraten. Und man muss nicht lange suchen, um eine Kandidatin zu finden. Nicht, dass sie unbedingt ideal wäre: Wir wissen nicht viel über die Fähigkeiten von Kamala Harris, so wenig Raum wurde ihr gelassen, um sich einen eigenen Platz zu schaffen. [...] Aber nur sie hat die Unterstützung, finanziell […] und politisch. […] Und ausserdem ist Trump in einer Kampagne, in der das Image so viel zählt, nun der alte Mann des anderen Partei.»
«Es ist zu befürchten, dass die Kandidatur von Kamala Harris die Kluft zwischen den beiden sich hassenden Amerikas vergrössern wird. […] Ihr wahrscheinliches Duell mit dem milliardenschweren Geschäftsmann ist eine Allegorie auf die Vereinigten Staaten von heute. Sie ist eine Frau, Afro-Afrikanerin, progressiv und muss gegen einen demagogischen und konservativen Macho antreten, der für den Rückzug des Landes auf sich selbst steht.»
«Der Druck war zu gross. In seinem Lager, von der Presse und sogar vom Showbusiness, das sich immer für ihn eingesetzt hatte. Nach einer katastrophalen ersten Debatte, gefolgt von Ausfällen infolge einer Quarantäne wegen Covid, wackelte Joe Bidens Position. Das Wunder von Pennsylvania, eine Kugel, die Trumps Kopf streifte, warf ihn endgültig zurück. Er war nur noch der schwache alte Mann im Angesicht des alterslosen Helden. Grausam für einen Präsidenten, der seine Amtszeit mit einer Wirtschaftsbilanz beendet, die viele seiner Vorgänger neidisch machen würde.» (sda/cbe)
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23.07.2024 09:13 Uhr