«Tod und Triumph liegen in den USA gefährlich nah beieinander. Die politische Gewalt wird den Wahlkampf in diesem Jahr kaum mehr verlassen – wider alle Vernunft. Zufälle entscheiden mitunter über den Gang der Geschichte. Die Kugel, die ein junger Mann am Samstag von einem Gebäudedach herunter auf Donald Trump abfeuerte, hat ihr Ziel um wenige Zentimeter verfehlt. Doch es reichte gerade noch, um ein paar Blutspritzer auf seinem Gesicht zu hinterlassen. Die Bilder davon werden mit Sicherheit in die Geschichtsbücher eingehen: wie ein von Sicherheitsleuten umzingelter Trump sich seinen Anhängern zuwendet und die Faust kämpferisch in die Höhe reckt. Sekunden nachdem er dem Tod entkommen ist, sendet er mit seinem phänomenalen Instinkt für Medienauftritte eine mächtige Botschaft an das Land: Ich bin stark, ich bin unbezwingbar.»
Tages-Anzeiger
«Das politische Amerika ist krank. Das Attentat gegen Donald Trump ist der dramatische vorläufige Tiefpunkt einer Polarisierung, die in den Nullerjahren begonnen hat. (...) Donald Trump trägt keine Mitschuld daran, dass auf ihn geschossen wurde. Mitverantwortlich ist er jedoch dafür, dass Amerika so ernsthaft krank ist. Er war es, der im Wahlkampf 2016 die Mauern des politischen Anstands einriss. Etwa als er forderte, Hillary Clinton ins Gefängnis zu stecken. (...) Nun aber ist Donald Trump das Opfer eines Attentats geworden, offiziell und unwiderlegbar. Seit er die politische Bühne betreten hat, inszeniert er sich als Opfer. Nun ist der Beweis erbracht, dass er eines ist. Beistand geleistet hat ihm ein 20-jähriger Fanatiker, der den Präsidentschaftskandidaten der Republikaner töten wollte. Mutmasslich, um eine zweite Amtszeit von Trump zu verhindern. Erreicht hat der Attentäter exakt das Gegenteil.»
«Die Schüsse, die Donald Trump (78) am Samstagabend nur haarscharf verfehlten, werden ihn direkt ins Weisse Haus katapultieren. Thomas Matthew Crooks († 20) hat mit einem Sturmgewehr von einem Dach aus rund 120 Meter Entfernung auf den Republikaner gefeuert und ihn am rechten Ohr getroffen. Der Attentäter wollte Trump ausschalten. Stattdessen machte er ihn zum Märtyrer. (...) Mit seinem politischen Urinstinkt ist es für Trump ein Leichtes, das Attentat dafür zu nutzen, die ohnehin schon komfortable Ausgangslage im US-Wahlkampf weiter zu verbessern. In einem ersten Statement bedankte er sich beim Secret Service und bei der Polizei für ihre rasche Hilfe und sprach den Angehörigen des durch die Schüsse getöteten Mannes und der schwer verletzten Frau sein Beileid aus. Das wird ihm weitere Sympathiepunkte bringen.»
«Nur Sekunden, nachdem ihn eine Kugel am Ohr verletzt, reckt er die Faust und ruft fight!, kämpft!, während ihn der Secret Service in Sicherheit bringt. Im Hintergrund weht die US-Flagge. Trump weiss um die Macht der Bilder. (...) Der Mordversuch markiert einen Wendepunkt in der US-Politik. Trump allein bestimmt nun, welche von zwei Richtungen der Wahlkampf nehmen wird: Der Ex-Präsident hat jetzt die Chance, das gespaltene Land zu einen, indem er allen Seiten klarmacht, dass Gewalt nie ein Teil des politischen Spiels sein kann. Das würde ihm jene Präsidialität verleihen, die ihm seine Kritiker vehement absprechen.»
(sda/wid)