Tamedia recherchiert zu Grabschern und Grüseln

#Me(dia)Too - Wie gravierend ist das Problem der sexuellen Belästigung und des Sexismus in der Schweizer Medienbranche? Der Recherchedesk von Tamedia hat dazu über 3000 Journalistinnen und Journalisten befragt. Mehr als zehn Prozent haben bereits geantwortet.

von Christian Beck

Aus #MeToo wird nun #Me(dia)Too. Im Oktober 2017 veröffentlichte die «New York Times» einen Artikel, in dem Filmproduzent Harvey Weinstein der sexuellen Belästigung beschuldigt wurde. Einige Tage später rief US-Schauspielerin Alyssa Milano unter dem Hashtag #MeToo andere Frauen dazu auf, ihre diesbezüglichen Erfahrungen zu teilen.

Von solchen Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen will nun auch Tamedia wissen. Auf Twitter hat Simone Rau, Reporterin beim Recherchedesk von Tamedia, einen Aufruf zur Umfrage #Me(dia)Too veröffentlicht:


Der Tamedia-Recherchedesk will sich mit dieser Umfrage einen Überblick darüber verschaffen, «wie gravierend das Problem der sexuellen Belästigung und des Sexismus in der Schweizer Medienbranche ist», heisst es einleitend in der Umfrage auf mediatoo.ch. Darin stehen Fragen wie «Wo bzw. in welche/r Situation/en wurden Sie belästigt?» oder «Von welcher Person ging der Übergriff oder die Belästigung aus?».

Bisher sind in der Schweiz nur wenige Fälle bekannt geworden, über das Thema wird kaum berichtet. Eine der wenigen Ausnahmen: Ende 2017 schrieb der «Tages-Anzeiger», Werner De Schepper, Co-Chefredaktor der «Schweizer Illustrierten» und früherer «Blick»-Chef, soll über längere Zeit Mitarbeiterinnen sexuell belästigt haben (persoenlich.com berichtete).

Auslöser für die aktuelle Umfrage sei aber nicht dieser Artikel gewesen. «Ende letzten Jahres erzählte mir eine Journalistin, dass sie bei einem Treffen sexuell belästigt worden sei. Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte», sagte Rau auf Anfrage von persoenlich.com. «Ich dachte mir: Was, wenn anderen Medienschaffenden Ähnliches widerfährt?» Etwa zur gleichen Zeit sei sie im Internet per Zufall auf eine Umfrage gestossen, die «BuzzFeed News Deutschland» zum Thema sexuelle Belästigung im Journalismus durchgeführt habe. «Ich fand die Ergebnisse interessant und beschloss, etwas Ähnliches für die Schweiz zu machen», so Rau.

Auch wenn es in der Schweiz bislang praktisch keine Texte zum Thema gebe: «Nur weil nichts an die Öffentlichkeit dringt, bedeutet das nicht, dass die Schweizer Medienbranche vom Problem der sexuellen Belästigung nicht betroffen ist.»

Über 3000 Mails verschickt

In diesen Tagen wurden nebst dem Aufruf via Twitter auch über 3000 E-Mails an Journalistinnen und Journalisten verschickt. An der ausführlichen Umfrage – in Deutsch und Französisch – können aber auch Medientrainerinnen, Layouter, Korrektorinnen oder Bildredaktoren teilnehmen. Kurz, alle Medienmedienschaffenden, die Erfahrungen mit sexueller Belästigung oder Sexismus gemacht haben – auch ausserhalb des eigentlichen Arbeitsplatzes, zum Beispiel bei einem Interview oder einem Hintergrundgespräch. Zur Teilnahme eingeladen sind auch solche, die von Kolleginnen oder Kollegen gehört haben, die belästigt wurden.

Mittlerweile sind auch schon Antworten eingegangen. «Unsere Erwartungen sind bereits übertroffen worden. Wir hätten nie gedacht, dass so viele Leute teilnehmen», so Rau. Mehr als zehn Prozent der angefragten Journalisten hätten bislang teilgenommen. Und: «Jeden Tag kommen neue dazu.» Wie viele der Antworten von Männern stammen, wollte Rau nicht preisgeben. Das werde dann Teil der Berichterstattung sein.

Für die Aktion #Me(dia)Too erhält Rau technischen Support von Mathias Born, Datenjournalist bei Tamedia. Der Fragebogen sei relativ umfangreich und komplex. «Aber das schien uns nötig», so Born. Er betonte gegenüber persoenlich.com, dass die Umfrage «absolut anonym» sei. «Wer auf mediatoo.ch die E-Mail-Adresse einträgt, erhält einen Link zur Umfrage zugeschickt. Von da an verliert sich für uns die Spur», so Born. Die Zugangscodes zur Umfrage würden vom Umfragetool «Limesurvey» automatisch von den Antworten getrennt. «Welche Antworten von wem stammen, ist für uns nicht nachvollziehbar.» Fakultativ können am Schluss der Umfrage die Kontaktdaten eingetragen werden. Das sei «vielleicht für all jene hilfreich, die einen gravierenden Vorfall erlitten haben oder grundsätzlich lieber persönlich mit uns reden möchten», sagte Born.

Opferschutz wird sichergestellt

Die Macher sichern allen Quellen Anonymität zu. «Konkrete Fälle können wir auch verfremden, um die Opfer zu schützen», so Rau. Und auch potenzielle Belästiger müssen nicht schon jetzt zittern. «Selbstverständlich würden wir niemals irgendwelche potenziellen Täter anschwärzen, ohne die Vorwürfe gründlich abgeklärt und auch mit ihnen selber gesprochen zu haben.» Die Vorwürfe könnten ja auch falsch sein. «Wer sich korrekt verhalten hat, muss nichts befürchten», sagte Rau.

Stellt sich hier die Frage, was ein korrektes Verhalten ist und wo sexuelle Belästigung beginnt. «Für mich beginnt sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz dort, wo sich jemand wegen des Verhaltens mit sexuellem Bezug einer anderen Person nicht mehr wohlfühlt – weil ihre oder seine Grenzen überschritten werden», so Rau. Entscheidend sei also ihr oder sein subjektives Empfinden – und nicht, was die belästigende Person mit dem Verhalten tatsächlich erreichen wolle.

«Es fängt subtil an, bei schlüpfrigen Witzen oder anzüglichen Gesten, geht über unerwünschte Einladungen oder Nachrichten mit pornografischem Inhalt zu Berührungen oder gar körperlichen Übergriffen.» Definitiv verboten sei alles, was strafbar ist. «Aber sexuelle Belästigung beginnt schon viel vorher, im Graubereich, wo sich die Belästiger und Belästigerinnen wohlfühlen.» Und sich die betroffene Person in ihrer Würde herabgesetzt fühlt.