09.08.2022

Tamedia

«Wir sind aufeinander angewiesen»

Die beiden Journalisten Dominik Balmer und Mathias Lutz erzählen Geschichten anhand von Daten und Bildern. Im Gespräch geben sie einen Einblick, wie solche Geschichten entstehen und warum sie in ihrer neuesten Recherche Fotos von jungen russischen Soldaten zeigen, die im Ukraine-Krieg gefallen sind.
Tamedia: «Wir sind aufeinander angewiesen»
Für ihren Artikel zu den gefallenen russischen Soldaten haben sie Daten der Plattform Mediazona verwendet: Tamedia-Journalisten Dominik Balmer und Mathias Lutz. (Bilder: zVg)
von Maya Janik

Herr Balmer, als Datenjournalist arbeiten Sie viel mit Zahlen. Machen Daten den Journalismus besser?
Dominik Balmer: Ich bin mir sicher, dass der Journalismus durch die Verwendung von Daten an Qualität gewonnen hat. Indem wir etwa unsere Recherchen offenlegen und angeben, auf welche Quellen wir uns stützen oder wie wir programmieren, gewinnen unsere Geschichten an Transparenz und Glaubwürdigkeit. Klar ist aber auch: Man muss mit Zahlen vorsichtig umgehen.

In Ihrer neuesten Recherche ist die Rede von etwas mehr als 5000 russischen Soldaten, die in der Ukraine seit Kriegsbeginn am 24. Februar gefallen sind. Wie kommen Sie auf diese Zahl?
Dominik Balmer: Sie stammt von der unabhängigen Plattform Mediazona, die von zwei ehemaligen Sängerinnen von Pussy Riot gegründet wurde. Für die Recherche zu den getöteten Soldaten der russischen Armee arbeitet Mediazona mit Freiwilligen und der BBC Russia zusammen. Auf diese Daten haben wir unsere Recherche gestützt.

«Es geht auch darum, die Zahlen ins Verhältnis zu setzen» – Mathias Lutz


Die CIA sprach zuletzt von 15'000 gefallenen Soldaten auf der russischen Seite, der britische Geheimdienst gar von 20'000. Wie erklären Sie sich, dass die Zahl von Mediazona deutlich niedriger ist?
Dominik Balmer: Uns ist bewusst, dass die Zahlen kein vollständiges Bild ergeben. Und das behauptet auch Mediazona nicht. Es kann zu Verzögerungen bei der Erfassung von Daten kommen. Das heisst, es dauert daher eine Weile, bis ein Todesfall überhaupt erst in den sozialen Medien auftaucht, von Mediazona schliesslich gefunden, verifiziert und in der Datenbank abgelegt wird. 

Mathias Lutz: Es geht auch darum, die Zahlen ins Verhältnis zu setzen: Welche Altersgruppen sind am stärksten betroffen? Aus welchen Regionen stammen die gefallenen Soldaten?

Im Vorgespräch sagten Sie mir, dass das Datenteam von Tamedia in der Schweiz exklusiven Zugang zum Datenregister von Mediazona erhalten hat. War es schwierig, an die Daten heranzukommen?
Dominik Balmer: Meines Wissens sind wir tatsächlich die ersten Journalisten in der Schweiz, die mit den Rohdaten von Mediazona gearbeitet haben. Ich habe mehrmals an die E-Mail-Adresse von Mediazona geschrieben, aber nie eine Antwort erhalten. Später habe ich es mit einer Nachricht auf Telegram versucht. Innerhalb von zwei Minuten kam eine positive Rückmeldung. Ich musste mich zunächst ausweisen, um zu beweisen, dass ich tatsächlich ein Journalist aus der Schweiz bin.

Wie sind Sie bei dieser grossen Menge an Daten vorgegangen?  
Dominik Balmer: Ein Hindernis war die Sprache. Ich verstehe kein Russisch, hatte aber Unterstützung von einem russischsprachigen Kollegen auf der Redaktion. Technisch war der Datensatz nicht sehr kompliziert. Die Daten waren in Rubriken aufgeteilt, dazu gehören unter anderem der Name, das Geburts- und Todesdatum und die Herkunftsregion der Soldaten.

Mit welchen Tools haben Sie gearbeitet?
Mathias Lutz: Die Aufbereitung von Daten ist klassische datenjournalistische Arbeit. Dominik hat die Daten aufbereitet, bereinigt und übersetzen lassen. Anschliessend kommt die Visualisierung, bei der hier Datawrapper zum Einsatz kam. Das war mein Part.

Datenjournalismus ist also Teamarbeit.
Dominik Balmer: Auf jeden Fall. Wir sind aufeinander angewiesen. Die einen können gut schreiben, andere bringen das technische Know-how mit, das für die Aufbereitung der Daten wichtig ist. Und Tamedia bietet ein Umfeld, das solche ausgiebigen Recherchen möglich macht.

«Es sind mehr Daten verfügbar als je zuvor» – Dominik Balmer


In der Recherche zeigen Sie Fotos von russischen Soldaten, die gefallen sind. Geht das nicht zu weit?
Mathias Lutz: Wir haben viel und intensiv darüber diskutiert. Schlussendlich haben wir uns dazu entschieden, die Gesichter der Soldaten zu zeigen, und zwar nicht anonymisiert. Auch sie sind letztlich Opfer des Krieges.

Welche Überlegungen hatten Sie sonst bei der Recherche?
Mathias Lutz: Wir mussten uns überlegen, welche Aspekte der Datenbank aus Schweizer Perspektive interessant sind. Wir mussten auch darüber nachdenken, welche der Daten sich visuell gut umsetzen lassen. Uns war wichtig, auch Fakten zu beleuchten, die hierzulande wenig bekannt sind. Wie eben die Regionen, aus denen die gefallenen Soldaten stammen.

«Mein Wunsch wäre eine grosse Datenstory zum Sport» – Dominik Balmer


Was sind die Herausforderungen der Arbeit mit Daten?
Dominik Balmer: Es sind mehr Daten verfügbar als je zuvor. Geschichten zu finden in diesen Daten, ist nicht immer einfach. Oft hat man eine Idee, aber die Daten geben nicht unbedingt einen Text her. Wichtig ist, nicht irgendeine Geschichte zu konstruieren, sondern Daten zu finden, die starke Geschichten erzählen. Die zweite Herausforderung ist, Daten attraktiv zu erzählen, sie lebendig zu machen. Corona hat den Datenjournalismus auf eine neue Stufe gehoben. Man hat verstanden, wie wichtig Daten sind.

Welche Tipps geben Sie Journalistinnen und Journalisten, die datengetriebene Geschichten machen wollen?
Mathias Lutz: Die Einstiegshürde ist heutzutage tief. Wenn man sich mit Tabellen, zum Beispiel in Excel oder Google Sheets, ein wenig auskennt, kann man mit Werkzeugen wie Datawrapper, Flourish oder Raw auch ohne Programmierfähigkeiten Visualisierungen erstellen. Hilfreich ist auch, sich anzusehen, wie lesenswerte datengetriebene Artikel aufgebaut sind, und sich zu fragen: Was sind die Bestandteile dieses Artikels? Welche Fähigkeiten müsste ich mir aneignen, um ein derartiges Ergebnis zu erzielen?

Welche datenbasierte Story wollen Sie noch unbedingt realisieren?
Dominik Balmer: Mein Wunsch wäre eine grosse Datenstory zum Sport. Man kann sich gar nicht vorstellen, was da alles an Daten herumschwirrt. Das ist ein Bereich, in dem es die grössten Datenmengen gibt, aber die wenigsten Datengeschichten. Bei uns gibt es keine Pflichtstoffe: Wir bearbeiten tagesaktuelle politische Themen, machen aber auch Geschichten, wie den Alkoholrechner, bei dem sich Leserinnen und Leser ausrechnen konnten, wie hoch ihr Alkoholkonsum im Vergleich zu anderen ist. Die ist übrigens sehr stark gelaufen.


Dominik Balmer ist seit Anfang 2020 Leiter des Datenjournalismus-Teams im Recherchedesk von Tamedia. Davor arbeitete er für diverse Zeitungstitel im News- und Wirtschaftsjournalismus – unter anderen für die SonntagsZeitung und die Berner Zeitung. Er hat an den Universitäten Bern und Heidelberg ein Germanistikstudium absolviert – zudem verfügt er über einen Master of Arts in Legal Studies der Universität Freiburg. An der Columbia University in New York hat er sich im Datenjournalismus weitergebildet.

Mathias Lutz ist Teil des Interaktiv-Teams der Redaktion Tamedia und Mitglied des Journalisten-Netzwerks «Digital Storytelling». Als Interaction Designer und Entwickler kümmert er sich neben grafischer Gestaltung und Datenvisualisierung auch um Interaktionselemente und Code. Er ist 2016 zum Tages-Anzeiger gestossen und entwickelte zuvor digitale Lernapplikationen. Er studierte «Neue Medien» an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).



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