06.02.2014

Tages-Anzeiger

"Es sind die ersten Spiele des konvergenten Sportressorts"

Fredy Wettstein, Sportchef beim "Tages-Anzeiger", steht vor emotionalen Monaten. Vor genau 40 Jahren war er das erste Mal als Journalist an einer Fussball-WM. Im August wird der passionierte Sportjournalist vorzeitig in Rente gehen. Im letzten Teil unserer Serie zur Sportberichterstattung 2014 spricht Wettstein über die prägenden Ereignisse seiner Karriere und erklärt, warum Sotschi auch für ihn als Routinier eine Premiere ist.
Tages-Anzeiger: "Es sind die ersten Spiele des konvergenten Sportressorts"

Herr Wettstein, jüngst gab es Bombendrohungen in Russland. Auf welche Probleme werden Ihre Mitarbeiter in Sotschi stossen? 
Seit München 1972 und insbesondere seit den Sommerspielen 1996 in Atlanta, haben sich die Sicherheitsvorkehrungen bei solchen Grossanlässen, nicht nur im Sport, radikal verändert. Daran haben wir Journalisten uns längst gewöhnt.

Aber es erschwert das Arbeiten.
Für Printjournalisten ist es aus anderen Gründen schon lange viel schwieriger geworden. Es gibt neben den offiziellen Pressekonferenzen kaum mehr Möglichkeiten für persönliche Gespräche mit den Athleten. Es sind vor allem Fernseh-Spiele. Umso wichtiger sind für Zeitungen damit Analysen, Schauplätze und Hintergründe. Da können wir vom Zeitunterschied zwischen Sotschi und der Schweiz profitieren. Sotschi ist für uns aber auch eine Premiere.

Weshalb? 
Es sind die ersten Spiele des konvergenten Sportressorts. Wir arbeiten zusammen für Print und Online, sind also Sprinter und Langstreckenläufer zugleich: schnell und umfassend, mit Live-Tickern, aber auch mit ersten Interviews und Kommentaren sowie mit Videos und Bildstecken auf Newsnet. Für den "Tages-Anzeiger" und die "SonntagsZeitung" berichten wir dagegen vertiefter und hintergründiger, mit eigenen Ansätzen und besonderen Grafiken. Noch nie war die Planung für ein Ereignis so vielschichtig und anspruchsvoll, noch nie war der personelle Aufwand so gross. 

Wie viele Leute werden an den beiden Gross-Events vor Ort im Einsatz sein? 
Wir werden in Sotschi vier Journalisten für Print und Online, einen VJ und einen Fotografen haben. Bei der Fussball-WM werden zwei Journalisten, einer für Videos und ein Fotograf von A bis Z bei der Schweizer Mannschaft sein – und hoffentlich führt das Z sehr weit. Eine dritte Person werden wir ab den Achtelfinals nach Brasilien schicken, eine vierte kommt vielleicht noch dazu. Auch in Brasilien wird für uns, wie bei den letzten grossen Fussball-Events, die Zusammenarbeit mit der der "Süddeutschen Zeitung" ein grosser Gewinn sein. 

Stellen Sie für diese Anlässe zusätzlich Leute ein? 
Nein. Unser ganzes Team ist involviert, und wir haben daneben einige freie Mitarbeiter - unter anderem Studenten, die auch sonst temporär für uns arbeiten -, die bei solchen Grossanlässen vermehrt eingesetzt werden. Wie gesagt, es ist das grösste Team überhaupt, das bei uns für solch ein Ereignis – sei es vor Ort oder von Zuhause aus – je gearbeitet hat. Zu den sechs Personen in Russland werden täglich etwa zehn Leute in Zürich für die Online- und Print-Produktion im Einsatz sein. Wir werden während Sotschi fast rund um die Uhr präsent sein, von morgens um sieben bis Mitternacht.

Egal, ob als Journalist oder Konsument; auf welchen Grossevent freuen Sie sich persönlich besonders? 
2014 ist für mich ein besonderes Jahr, weil ich mich Ende August frühpensionieren lasse. Die Fussball-WM in Brasilien wird das letzte grosse Ereignis sein, 40 Jahre nachdem ich als blutjunger, unerfahrener und auch staunender Journalist, damals für die "Zürichsee-Zeitung", an einige Spiele der Fussball-WM in Deutschland reisen durfte.

Was ist wichtiger: Sotschi oder die Fussball-WM? 
Weltweit hat eine Fussball-WM sicher noch mehr Beachtung. Sie dauert auch mehr als vier Wochen und schon zum dritten Mal in Folge ist die Schweiz dabei. Aber auch Winterspiele interessieren uns immer stark. Noch nie war eine Schweizer Delegation so gross, und in sehr vielen Disziplinen haben wir Medaillenchancen. 

Ist die Leichtathletik-EM in Zürich bereits ein Thema auf der Redaktion? 
Nur im Hintergrund. Im Moment ist der Fokus auf Sotschi gerichtet. Das Fernsehen muss bei solchen Ereignissen monate- oder sogar jahrelang vorausplanen. Bei uns läuft alles viel kurzfristiger. Das Australian Open ist vorbei, ganz vieles musste auch hier kurzfristig neu überdacht werden. Jetzt kommt Sotschi, dann die Fussball-WM, wenig später die Leichtathleletik-EM.

Gehen die Verkaufszahlen Ihrer Zeitung während eines sportlichen Grossanlasses erfahrungsgemäss nach oben? 
Da der Tagi primär eine Abonnentenzeitung ist, schwanken die Zahlen im Einzelverkauf nur minim. Viel stärker spürbar ist das Interesse beim Newsnet. In Melbourne, bei den Spielen von Wawrinka oder Federer, erreichten die Zahlen Rekordwerte. Das wird sicher auch bei Sotschi, mit Wettkämpfen, die fast alle am Tag stattfinden, und dann bei der Fussball-WM so sein. 

Lässt sich über den Sport in solch einem Jahr Werbung besser verkaufen? 
Leider sind auch diese Anlässe für die TV-Stationen profitabler. Die Werbung geht in erster Linie ins Fernsehen.

Bevorzugen Sie die intensiveren Sportjahre, oder doch lieber diejenigen, in denen es nur einen einzigen Mega-Event zu meistern gilt? 
Das hektische Leben und alles, was damit verbunden ist, gehört zum Sport dazu. Vieles ist nicht planbar, sondern ergibt sich aus der Situation heraus. Diese Ungewissheit ist das Spannende am Job.

Welches war Ihr persönlich spannendstes Erlebnis an einer Fussball-Weltmeisterschaft? 
Das spannendste? Unmöglich zu sagen, das sind so viele. Im Kopf bleiben aber mehr die persönlichen Erinnerungen und auch das sind einige. 1982 etwa, bei der WM in Spanien, besuchten wir in einem kleinen Dorf ausserhalb von Barcelona ein Trainingsspiel von Brasilien. Irgendwo in den Bergen. Wir sassen ganz nah am Spielfeldrand und bei der lokalen Mannschaft stand einer mit einem roten Pullover und schwarzen Hosen sehr nervös im Tor. Irgendwie kam er uns bekannt vor. Und tatsächlich: Es war der Kellner des Restaurants, in dem wir abends zuvor gegessen hatten. Jetzt stand er zittrig vor grossen brasilianischen Stars wie Zico oder Socrates. Ich glaube, die Brasilianer haben in diesem Spiel ungefähr 15 Tore geschossen. Damals konnte man noch einfach ins Hotel einer Mannschaft fahren, an der Rezeption nach einem Spieler fragen und vielleicht hatte man Glück. Inzwischen ist das längst undenkbar. Da müsste man Angst haben, verhaftet zu werden, wenn man nur schon in die Nähe eines Quartiers käme.

Zum Schluss noch ein Tipp des Experten: Wer wird Fussball-Weltmeister 2014? 
Bisher war es so, dass in Südamerika nur eine südamerikanische Mannschaft gewinnen kann. Ich sage aber: Deutschland! Und die Schweizer werden bis ins Achtelfinale vorstossen. Dort wartet jedoch vielleicht Argentinien mit Messi.

Interview und Bild: Marco Lüthi



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