28.11.2014

Alte Tante ohne Unterleib

Die "Neue Zürcher Zeitung" weist 255 000 Leser aus und glaubt nicht mehr, dass sie ihre Printauflage steigern kann. In der deutschsprachigen Schweiz wohnen etwa eine Million Menschen höherer Bildungsgrade, die des Lesens noch fähig sind; die NZZ hat kein Rezept gefunden, in diesem Leserreservat die Auflage zu steigern.
von Klaus J. Stöhlker

Die "Neue Zürcher Zeitung" weist 255 000 Leser aus und glaubt nicht mehr, dass sie ihre Printauflage steigern kann. In der deutschsprachigen Schweiz wohnen etwa eine Million Menschen höherer Bildungsgrade, die des Lesens noch fähig sind; die NZZ hat kein Rezept gefunden, in diesem Leserreservat die Auflage zu steigern. Sie begeht sogar die Digitalflucht nach Österreich, das Herkunftsland ihres CEO, der den Schliessungsantrag für die Zürcher Druckerei gestellt hat.

VR-Präsident Etienne Jornod, ein Marketingmanager, der sein Vermögen in der Pharmabranche gemacht hat, wo alleine die Zahlen relevant sind, hat der Schliessung der eigenen Druckerei zugestimmt und damit die NZZ zu einer Zeitung ohne Unterleib gemacht. Er hat mit der Übergabe des Drucks an den Konkurrenten Tamedia dessen Auslastung und Konkurrenzfähigkeit gestärkt. Die NZZ ist jetzt wieder ein "fliegendes Blatt" (Feuilleton), wie sie im 18. Jahrhundert begonnen hat.

Etienne Jornod hat mehrfach versprochen, in die journalistische Qualität der "Neuen Zürcher Zeitung" zu investieren. Da dieser Begriff sehr dehnbar ist, kann nur gehofft werden, dass CEO und Chefredaktor dies auch in die Praxis umsetzen. Dafür gibt es bei dem Hausblatt der alternden Zürcher Leser viel Spielraum: Der Wirtschafts- und Lokalteil können noch an Gewicht gewinnen, sei es in ihren Kommentaren oder bei der Auswahl der Themen. Die Leitartikel der NZZ haben in den letzten Jahren erheblich an Leitfunktion verloren, weshalb es angebracht wäre, dort bessere Federn zu gewinnen, die weniger dem Zeitgeist als der analytischen Tiefe verpflichtet sind. Die Auslandredaktion macht wieder mehr Freude, denn viele ihrer Beiträge sind überraschend und hoch informativ. Das gleiche gilt für das Feuilleton, wo es Dr. Martin Meyer immer wieder gelingt, die personell stärker ausgebauten deutschen Konkurrenten von der "Frankfurter Allgemeinen" und der "Süddeutschen" in Schach zu halten.

Mit der völlig überschätzten Digitalisierung der Medienlandschaft, wo Sex und Crime mehr noch als in den Boulevardzeitungen geboten und geklickt werden, gehen die Printmedien, wie die NZZ, in den Massenmarkt und werden auch dort aufgrund des Wettbewerbs Verlierer sein. Wenn die "Neue Zürcher Zeitung" ihre liberale Leuchtturmfunktion für die Schweizer Gesellschaft nicht mehr halten kann, wird sie nach der eigenen Druckerei auch den Rest eines nicht zu fernen Tages in einen "merger of equals" einbringen müssen. Das sagt die wirtschaftliche Vernunft, die an der Falkenstrasse hoch gehalten wird. 

 



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