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Abwägen, welche Bilder zugemutet werden

Die hinterhältigen Angriffe der Hamas auf israelische Bürgerinnen und Bürger, die Geiselnahmen sowie die Kampfhandlungen erzeugen grausame Bilder. Das stellt Journalisten und Journalistinnen wieder einmal vor die Frage, wie viel der Brutalität sie zeigen müssen. Abwägen ist unabdingbar.

Abwägen, was zuzumuten und verantwortbar ist, gehört zur berufsethischen Routine im Journalismus, ist aber aktuell besonders bei der Bildauswahl zur Berichterstattung über die Lage in Israel herausfordernd. Ohne Zweifel besteht an der Berichterstattung ein überragendes öffentliches Interesse. Die Frage ist nicht, «ob», sondern «wie» verantwortungsorientiert berichtet wird. Das heisst, stets vor dem Veröffentlichen zu überlegen, was mit Blick auf die Menschenwürde der Opfer und die Gefühle der Angehörigen zumutbar ist. Man kann pflicht- und folgeethisch abwägen sowie auf den Kompass zurückgreifen, den die Richtlinien des Pressekodexes an die Hand geben.

Pflichtethisch argumentiert, kann es keine generelle Maxime sein, Bilder von Leichen, verletzten, verschleppten oder angeschossenen Menschen zu veröffentlichen. Zugleich ist Journalismus ein Beruf, der das, was wirklich geschieht und öffentlich relevant ist, öffentlich macht, auch wenn es grausam ist. Und das gilt definitiv für die Dokumentation eines verbrecherischen Angriffs. Folgenethisch gesehen kann die Zumutung solchen Bildmaterials insofern positiv wirken, zumal das Betrachten dieses Grauens Anstrengungen befördern kann, möglichst rasch zum Beispiel einen Waffenstillstand herbeizuführen.

Etliche Richtlinien im Schweizer Pressekodex beinhalten weitere nützliche Abwägungsfragen: Wird die Verpflichtung auf Wahrheit eingelöst; der besondere Schutz für Kinder; die Empfehlung zur Zurückhaltung gerade bei Bildern über Kriege und Terrorakte; die Notwendigkeit, auch Brutales zu zeigen, wenn es ein einmaliges Dokument der Zeitgeschichte darstellt? Wird abgewogen zwischen öffentlichem Interesse und der Menschenwürde – also dem Schutz der Privatsphäre der gezeigten Personen, der Totenruhe sowie der Sensibilität der Betrachter? Unverantwortbar sind Darstellungen, die Menschen zu Objekten degradieren. Sind Sterbende, Leidende und Leichen detailgetreu, immer wieder und sehr exponiert dargestellt, gilt dies als sensationalistisch, übersteigt also ein legitimes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit.

Aus Israel erreichen uns aktuell Bilder von weitgehend abgedeckten Leichen, die Helfer in ein Festivalzelt gebracht haben, oder von einer Frau mit einem roten Schal um die Schulter, die vom Festivalgelände flüchtet; sie ist identifizierbar. Beide Bilder veranschaulichen die Brutalität der Attacken, wenngleich sie auch in die Privatsphäre der Abgebildeten eingreifen; beide Bildarten lassen sich gerade in der Anfangszeit dieses Kampfes rechtfertigen.

Ein besonderer Fall sind die Bilder von Menschen, die als Geiseln genommen werden, Bilder, bei denen oft die Opfer erkennbar sind sowie die Hamas-Täter, die teilweise direkt in die Kamera blicken. Auch hier lässt sich rechtfertigen, diese Bilder oder Filme zu zeigen, aber nochmals dosierter. Denn bei Bildmotiven dieser Art kommt noch ein Aspekt zum Tragen. Neben dem zweifelsfreien öffentlichen Interesse und dem Argument, gerade jetzt, wo diese Übergriffe neu passieren, handle es sich um Dokumente der Zeitgeschichte, tritt das Phänomen «Propaganda der Tat». Die Hamas will der Welt ja gerade zeigen, wie brutal sie ist; solche Bilder bedienen also ihre Strategie. Daher ist es «ethisch ratsam», solche Bilder nur sehr ausgewählt zuzumuten, um sich von den Tätern möglichst wenig dafür instrumentalisieren zu lassen, unabsichtlich «Propaganda» für ihre Untaten zu betreiben.

Unter anderem Blick.ch zeigt Bilder der 22-jährigen Shani Louk; sie hat einen deutschen und einen israelischen Pass. Hamas-Kämpfer haben sie mutmasslich entführt und auf eine Autopritsche geworfen. Es kursiert ein Bild, auf dem eine Frau mit dem Rücken nach oben zu sehen ist, ein Bein so verdreht, wie es eigentlich ohne gebrochene Knochen nicht möglich ist. Auch hier liesse sich unter anderem mit Propaganda der Tat argumentieren sowie damit, wie man ein Bild zeigen will: ganz, verpixelt, nur einen Ausschnitt, mit vorgeschalteter Triggerwarnung. Das illustriert auch, dass ethische Abwägungen in Grauzonen führen, wo es kein völlig Richtig oder total Falsch gibt.

Entscheidend bleibt: Journalisten und Journalistinnen müssen unterschiedliche Sichtweisen gegeneinander abwägen, ehe sie Bildmaterial veröffentlichen. Das liefert ihnen auch Argumente, warum sie Bilder zumuten, und auch, warum nicht. Transparenz stärkt Vertrauen. Deshalb ist es ratsam, solche Begründungen dem Publikum auch darzulegen. Dies fördert die Medienkompetenz. Zu ihr gehört, Berichterstattung einordnen zu können, sich selbst zu schützen und sich mal ein Stopp zu setzen, sobald man sich gerade bei neuen Schreckensereignissen dabei ertappt, wie man fast pausenlos von Bild zu Bild, von Videoclip zu Videoclip scrollt.



Marlis Prinzing ist Professorin für Journalistik an der Hochschule Macromedia in Köln, Moderatorin, Kolumnistin (Der Standard), Buchautorin und Herausgeberin diverser Fachbücher.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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