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Digitale Fürze

Benedikt Weibel

Vor geraumer Zeit kam das Angelsächsische über uns wie eine Lawine. Wer etwas auf sich hielt, warf mit Anglizismen um sich. Das taten vor allem diejenigen, die mental am weitesten von der angelsächsischen Welt entfernt waren. Plötzlich hiess die Abteilung nicht mehr «Unterhalt», sondern «Maintenance» – ein Ausdruck, den die wenigsten korrekt aussprechen konnten. Hätten wir damals nicht ein Machtwort gesprochen, würden die SBB heute Swiss Rail SR heissen. Die heutige Lawine heisst Digitalisierung. Zwar digitalisieren wir seit Jahrzehnten, aber nun liegt der grosse Umbruch in der Luft. Disrupt or you will be disrupted! Jetzt muss man demonstrativ zeigen, dass man ganz vorne dabei ist. 

Seit einiger Zeit bewege ich mich in der Agglomeration Bern mit einem elektrischen Velo. Der Kundennutzen ist direkt messbar: Im Jahr spare ich ungefähr 150 Stunden. Neulich bin ich auf ein digitales Modell mit SIM-Karte und eingebautem Display umgestiegen. Auf meiner App müsste ich jederzeit sehen können, wo mein Rad steht. Funktioniert nie. Kürzlich hat mein Display in voller Fahrt «Diebstahl» angezeigt, der Antrieb hat ausgesetzt, und ich konnte mich gerade noch auf das Trottoir retten. Immerhin konnte ich nach einiger Zeit via App die Diebstahlmeldung wieder ausschalten. Nüchtern betrachtet, steht dem beträchtlichen Mehrpreis für die digitale Aufrüstung ein minimaler Kundennutzen gegenüber.

An der Spitze der digitalen Schaumschlägerei steht die Post. Lieferroboter, Drohnen, selbstfahrende Postautos – eine Ankündigung folgt der anderen. In diesem ausgesprochenen Massengeschäft ist das Fassungsvermögen dieser Gefässe geradezu lächerlich gering. Mit diesen öffentlichkeitswirksamen Initiativen wird verschleiert, dass Swiss Post Solutions, der Geschäftsbereich, der «Lösungen für die digitale Transformation» anbietet, vor sich hindümpelt. 2009 betrug sein Umsatz 696 Millionen Franken, sieben Jahre später sind es noch 556 Millionen Franken. 

1955 publizierte der «Spiegel» die Titelgeschichte: «Künstliche Welten: Die Revolution der Roboter – auch Bäckereien und Brauereien reif für die Automation». 65 Jahre später ist das beste Brot eben gerade nicht industriell gefertigt, und regionale Brauereien erobern den Markt. Immerhin gibt es heute automatische Staubsauger, die man Roboter nennt, obschon sie weder auf dem Sofa noch hinter der Türe zu reinigen in der Lage sind. Sie sind deshalb höchstens als Zweitgeräte geeignet. Nun will uns ein Roboterhersteller das Leben im Haushalt substanziell erleichtern. Sie wissen nicht mehr, wo Sie in Ihrem Keller im letzten Herbst die Grillzange verstaut haben? Kein Problem, der KMR iiwa findet sie. Sie müssen nur, wenn Sie die Grillzange ins Winterquartier versorgen, ein Foto machen. Und dürfen in der Zwischenzeit nichts verändern – das würde den Robo verwirren. Bleibt nur noch ein Problem: Was macht man, wenn man im Keller vergessen hat, wonach man eigentlich gesucht hat? 


Benedikt Weibel ist ein Schweizer Manager. Von 1993 bis 2006 war er Vorsitzender der Geschäftsleitung der SBB und damit deren Generaldirektor.

Unsere Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion. 

 

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