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Neues aus der Rubrik Elternschelte

Willkommen in unserer alten Rubrik «Elternschelte»! Sie ist sehr beliebt in klickgetriebenen Medien und erzeugt wunderbar viel Empörung («Engagement!»). Seit Tagen berichten zum Beispiel die Tamedia-Zeitungen über die gefühlte Wahrheit, wonach Eltern immer mehr mit dem Mobiltelefon am Schwimmbadrand sässen und ihre Kinder nicht beaufsichtigen würden.

Zahlen dazu gibt es nicht, es gibt nicht mehr Ertrinkungsunfälle, dafür vor allem anonyme Stimmen, die sich über die verantwortungslosen Eltern ärgern, und einen «Augenschein», der dieses angebliche Phänomen beweisen soll. (Respektive es gibt durchaus Zahlen: «20 Minuten hat gezählt, wie viele Kinder ohne Aufsicht im Kinderbecken planschen.»)

Der Eltern-mit-Handy-in-der-Badi-Artikel ist übrigens quasi ein saisonaler Klassiker, er erntet die gleiche Empörung wie die Erdbeeren im März in der Migros und taucht seit 2015 regelmässig in verschiedensten Medien immer wieder auf.

Viel Alarmismus über unfähige Eltern neulich auch bei einem Artikel in der SonntagsZeitung darüber, dass Kinder immer später trocken würden – «Pädagogen schlagen Alarm: Mit Windeln in die Primarschule»! Wiederum ein thesengetriebener Artikel, der Stimmen von Fachpersonen wie Margrit Stamm zusammenstellte, die dieses gefühlte Phänomen (das sich «auch in den Ladenregalen zeige») mit Verve stützen.

Ganz sicher hätte es in beiden Fällen auch andere Stimmen gegeben, die etwas anderes sagen; die relativieren und aufzeigen, unter welchem Druck Familien heutzutage stehen und wie stark sich Eltern heute Mühe geben, all die gesellschaftlichen Erwartungen zu erfüllen und ihren Kindern eine bestmögliche Kindheit zu verschaffen.

Ich stehe für unser Familienmagazin seit mehr als sechs Jahren in intensivem Austausch mit Eltern und Fachpersonen. Wenn die Journalist*innen mich angerufen hätten, hätte ich ihnen etwas anderes erzählt: dass sich Eltern extrem schämen, wenn ihre Kinder nicht früh genug trocken sind. Dass der Gebrauch des Mobiltelefons bei Eltern ein riesiger Quell der Schuldgefühle ist. Dass keine Mutter, kein Vater denkt: Hach, lasse ich mein Kind doch einfach ertrinken und spiele Candy Crush. Die unsexy Wahrheit ist: Eltern wollen das Beste für ihre Kinder. Und die allermeisten geben das Beste, das sie können.

Aber ich bin lange genug im Journalismus, um zu wissen, dass es niemals Artikel geben wird mit Titeln wie «99,999 Prozent aller Eltern lassen ihre Kinder nicht ertrinken!», «US-Studie zeigt: Eltern machen es insgesamt ganz gut».

Denn Beiträgen, welche die anonyme Gruppe «Eltern» mindestens zwischen den Zeilen als unfähig degradieren, ist die Aufmerksamkeit garantiert. Schliesslich war ja jede*r mal Kind und hat eine Expertenmeinung dazu, was Väter und (besonders) Mütter alles falsch machen heutzutage. Solche Beiträge kultivieren billige Empörung. Und das Beste daran: Aus den Kommentaren kann man noch grad einen Folgeartikel basteln: «Solchen Eltern sollte man samt Kindern Hausverbot geben» (20 Minuten).

Falls Kinder wegen mangelnder Aufmerksamkeit der Eltern in der Badi ertrinken, dann braucht es dazu journalistische Recherche, auf jeden Fall (es gäbe zum Ertrinken übrigens auch Statistiken – die meisten Menschen ertrinken in offenen Gewässern). Auch das Trockenwerden wäre ein spannendes Thema: Warum trainieren wir unseren Kindern mühsam die Windeln an, fechten Wickelkämpfe aus, um die Dinger dann Jahre später nicht mehr wegzukriegen? Aber die komplexe Realität des Familienlebens generiert einfach viel zu wenig Klicks, zu wenig Empörung und zu wenig Kommentare.

Eltern-Bashing hingegen treibt die Klicks in die Höhe – verschafft aber keinem Kind eine bessere Kindheit. Es ist undifferenziert und heizt die kinderfeindliche Stimmung weiter an, die in der Schweiz im öffentlichen Raum als Familie ohnehin oftmals spürbar ist (Artikelidee: Busfahren zur Feierabendzeit mit zwei quengelnden Kleinkindern, 20 Minuten zählt die bösen Blicke).

Billige Elternschelte und das Moralin, das aus solchen Schlagzeilen trieft, machen keine Mutter, keinen Vater zu besseren Eltern.


Sarah Pfäffli (41) ist Co-Leiterin des Online-Familienmagazins kleinstadt.ch und Mitinhaberin der gleichnamigen Kommunikationsagentur aus Bern. Sie arbeitet zudem als Mediensprecherin. (Bild: Lea Moser)

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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