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Wie Ihre Kunden Sie in Erinnerung behalten

Wie Will Guidara und Daniel Humm die Brasserie Eleven Madison Park (EMP) in New York zum besten Restaurant der Welt machten, ist ein Lehrstück für alle, die im Marketing oder Experience Design tätig sind. Und das auch ausserhalb der Gastronomie-Branche.

Die Geschichte geht so:

«40. Platz» war die Schätzung von Will Guidara, «35. Platz» die von Daniel Humm. Die beiden hatten einige Jahre davor die Führung des EMP in New York übernommen und wurden 2010 in die noble Londoner Guildhall zur Preisverleihung der «World’s 50 Best Restaurants» eingeladen.

Das an sich war natürlich schon eine grosse Ehre für die beiden jungen Gastronomen. Aber was erstmal folgte war eine herbe Enttäuschung: Mit «To kick it off, coming in at number fifty, a new entry from New York City: Eleven Madison Park!» wurde die Zeremonie eröffnet – und für die beiden auch gleich schon wieder beendet.

Regentropfen machen Ozeane

Nun war es aber natürlich nicht so, dass das Erlebnis in ihrem Restaurant nicht herausragend war. Die zwei Restaurateure hatten eine Kultur der Exzellenz und Perfektion geschaffen, mit der sie jedes Detail des Gastronomie-Erlebnisses laufend weiter verbesserten. Je ausgefeilter, desto besser. Ganz nach dem Motto: Regentropfen machen Ozeane.

Trotzdem reichte es nur für Platz 50.

Was tun?

Wie wird man #1 der Welt, wenn das Kernprodukt auch durch die ständige Verbesserung des Produktes nicht weiter differenziert werden kann?

Perfektion ist nicht alles

Will Guidara und Daniel Humm suchten die Differenzierung anderswo. Sie fragten sich: Was würde passieren, wenn wir das gleiche, vielerlei übertriebene, ja fast unvernünftige Streben nach Perfektion bei der Zubereitung eines Gerichts, der Einrichtung des Speisesaals oder des Service-Erlebnisses auf die Gastfreundschaft übertragen würden?

Oder anders gesagt: Sie hatten realisiert, dass es in ihrem Business nicht (nur) darum ging, exquisite Dinners zu servieren – sondern einmalige, ganz persönliche Erinnerungen, die man nie mehr vergisst.

Und wie soll das bitte gehen?

Im ersten Schritt ging es darum, alles zu beseitigen, was den Eindruck erweckte, dass es sich beim Restaurantbesuch um eine geschäftliche Transaktion handelt. Die Gäste sollten nicht das Gefühl haben, im Restaurant von Will Guidara und Daniel Humm zu sitzen, sondern in deren Zuhause.

Bestell- und Bezahlterminals, Drucker und alle anderen für den Betrieb notwendigen elektronischen Geräte wurden aus dem Speisesaal verbannt. Das Podium am Eingang, hinter welchem normalerweise der Maître d’Standing die Gäste begrüsst, auf einem hellstrahlenden Bildschirm die Reservation sucht und den zugeteilten Tisch ausruft, wurde abgeschafft.

Stattdessen liefen die Gäste nun direkt auf den Maître zu und wurden persönlich mit Namen und Augenkontakt begrüsst – eben so, wie es sich anfühlt, wenn man bei Freunden zum Abendessen eingeladen ist. Jeder Gast wurde dafür vorgängig nach Fotos gegoogelt, die sich der Maître sorgfältig einprägte.

Anstatt zu fragen, ob die Rechnung gebracht werden könne – und damit implizit auszudrücken, dass jemand nicht länger willkommen sei – oder ungeduldige Gäste am Ende eines langen Abends länger als nötig warten zu lassen, folgte nach dem letzten Gang die Rechnung direkt auf den Tisch – zusammen mit einer vollen Flasche Cognac und der Botschaft «Vom Hause offeriert. Nehmen Sie sich so viel Sie mögen – und wenn Sie gehen möchten, dann liegt Ihre Rechnung hier schon bereit».

Jetzt wird’s «unvernünftig»

Viele weitere solcher Optimierungen brachten das Gefühl echter Gastfreundschaft auf ein ähnlich aussergewöhnliches Niveau wie die Food- und Service-Exzellenz. Und sie waren alle gut – aber für jeden Gast austauschbar. Wie nur konnten mehr wirklich persönliche, unvergessliche Erlebnisse geschaffen werden?

Dafür kam die «95/5-er Regel» ins Spiel.

Will Guidara beschreibt sie wie folgt: «Managen Sie 95 Prozent Ihres Geschäfts bis auf den letzten Cent; geben Sie die letzten 5 Prozent «unvernünftig» aus». Was er damit meint: Investieren Sie einen kleinen Teil Ihres Budgets in Dinge, die einen übergrossen Einfluss auf das Gästeerlebnis haben. Dinge, die Menschen das Gefühl geben, dass sie gesehen und verstanden werden; dass sie sich willkommen fühlen; dass sie Wertschätzung, Verbundenheit und Individualität spüren.

Für Will Guidara und Daniel Humm bedeutete dies, Erlebnisse zu schaffen, die ihre Gäste nirgends anders haben konnten. Nicht einmal am Tisch nebenan – weil sie eben höchst persönlich und damit beinahe einmalig waren.

Hier ein paar Beispiele:

An einem Winterabend verbrachte eine vierköpfige Familie aus Spanien den letzten Abend ihres Urlaubs im Eleven Madison Park. Vor den riesigen Fenstern fiel dichter Schnee und die Kinder konnten ihr Glück nicht glauben: Sie hatten noch nie zuvor Schnee gesehen.

Als das Essen vorbei war, hatte das EMP-Team vier Schlitten gekauft und einen SUV mit Chauffeur organisiert, der die ganze Familie zu einem besonderen Ferienabschluss in den Central Park brachte: ein paar Stunden im frisch gefallenen Schnee.

Wenn ein Tisch den Grossteil des Essens damit verbrachte, über einen Film zu sprechen, den sie geliebt aber deren Details sie vergessen hatten, kam die Rechnung am Ende nicht nur mit der Cognac-Flasche, sondern auch mit einer DVD eben dieses Films.

Oder wenn ein Ehepaar, das sein Hochzeitsjubiläum feierte, erwähnte, dass es in einem nahegelegenen Hotel übernachte, dann sorgte das EMP-Team dafür, dass bei ihrer Rückkehr eine Flasche Champagner auf dem Zimmer stand. Zusammen mit einer handgeschriebenen Notiz, in der sie sich dafür bedankten, dass sie das EMP für einem so wichtigen Abend ausgewählt hatten.

Bierdosen anstatt Champagner

Vom Sohn eines anderen Gastes erfuhr das Team, dass sein Vater eher der Bier- als der Champagner-Typ sei – also kaufte das EMP-Team kurzerhand alle in der Nachbarschaft auffindbaren Exemplare seiner Lieblingsmarke zusammen und rollte anstatt des Champagner-Wagens einen Wagen voller Biervariationen an den Tisch des Gastes.

Mit der Zeit wurden sich wiederholende Situationen systematisch identifiziert, Toolkits entwickelt, dank welchen sich solche überraschenden Gesten mit wenig Aufwand umsetzen liessen. Mehr noch, das Restaurant schuf gar eine neue Stelle mit dem passenden Namen «Dreamweaver». Dieser war einzig und allein für die Umsetzung der spontanen Massnahmen zuständig. Die anfänglich improvisierten Zeichen der Gastfreundschaft, die zufällig und nur einigen wenigen Gäste zuteilwurden, konnten so auf möglichst viele Restaurantbesucher skaliert werden.

Das alles waren Erlebnisse, die niemand anderes haben konnte. Nicht die Gäste am Nebentisch, geschweige denn die Gäste in einem der anderen 49 besten Restaurants der Welt.

Was wir daraus lernen

Aber was machte diese Geschenke, diese Gesten so gut?

Nicht dass sie für das Restaurant teuer sind – sondern für den Gast unbezahlbar. Es geht hier nicht um die Schlitten, die DVD oder die Bierdosen auf dem Champagner-Wagen. Und auch nicht um die Gastronomie-Branche, in der wohl weder Sie noch ich tätig sind.

Es geht darum, empathisch zu sein und den Menschen unvergessliche Erinnerungen zu geben – Erlebnisse, Geschichten, die sie noch Tage, Wochen oder vielleicht Jahre mit sich herumtragen, erzählen und immer und immer wieder durchleben können. Egal, in welcher Branche Sie tätig sind und was Ihr Kernprodukt ist. Denn diese Art von Erinnerungen schafft man nicht über das Produkt allein ­– selbst das beste Filet der Welt hat man irgendwann vergessen – sondern über scharfe, leidenschaftliche Aufmerksamkeit und ein individuelles Erlebnis.

Denn Menschen werden nie vergessen, wie sie sich bei Ihnen gefühlt haben – weder im Eleven Madison Park noch, wenn sie bei Ihnen ein Auto, eine Versicherung oder eine Hypothek kaufen.


Thomas Ruck ist Managing Director bei Accenture Song.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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