15.09.2000

Darf er sich sehen lassen?

Wer den Geschäftsbericht als notwendiges Übel behandelt, vergibt gute Kommunikationschancen.

Interessiert sich überhaupt jemand für Geschäftsberichte? Von den 200'000 Aktionärinnen und Aktionären, die Nestlé anschrieb, verlangten laut Finanz und Wirtschaft jedenfalls nur gerade 12'000 ein Exemplar. Das sind ganze sechs Prozent des Aktionariats. Nun, vielleicht informieren sich diese Shareholder anderweitig über die Geschicke ihres Unternehmens: über die Medien, bei denen die Finanz- und Unternehmensberichterstattung einen immer breiteren Raum einnimmt, oder übers Internet. Wie auch immer - es besteht ein breiter Konsens bezüglich der Berechtigung eines gedruckten Geschäftsberichts auch im IT-Zeitalter: als Visitenkarte des Unternehmens und als wichtiges Informationsmedium der Investor-Relations- Abteilung, aber auch, und das wird häufig vergessen, als internes Forum - für die Mitarbeiter des Unternehmens. Weniger Einigkeit herrscht allerdings über die Inhalte und deren Verpackung. Hier leisten die alljährlichen kritischen Würdigungen bei den zuständigen Stellen in den Unternehmen einen Beitrag zur Bewusstseinsbildung.

Geschäftsberichte werden einmal im Jahr vorgelegt. Das verleiht ihnen in unserem hektischen Informationszeitalter eine verhältnismässig lange Lebensdauer. Mit steigender Tendenz, denn bereits gibt es Unternehmensverantwortliche, die eine Vergleichbarkeit der Geschäftsberichte über eine Periode von drei bis fünf Jahren hinweg anstreben. Nur so sei die Unternehmensentwicklung und die Einlösung der Prognosen in allen Einzelheiten nachzuvollziehen. Zudem ist die Rechnungslegung die einzige von Gesetzes wegen geprüfte Information. Der Geschäftsbericht erlangt somit eine grössere Glaubwürdigkeit und eine höhere Authentizität als andere Publikationen eines Unternehmens. Umso erstaunlicher, dass er von zu vielen Unternehmen nicht optimal als Plattform für die Imagepflege und als Mittel für das Aktienmarketing genutzt wird.

Der Geschäftsbericht spricht unterschiedliche Zielgruppen an, und jede hat andere Erwartungen. Die Finanzanalystin andere als der Aktionär, der Aktionär andere als die Politikerin, die Politikerin andere als der Medienschaffende. Dieser wiederum hat andere Wünsche an den Bericht als die Mitarbeiterin. Und ihre Ansichten decken sich wiederum nicht unbedingt mit denjenigen ihres obersten Chefs. Ein lesbarer Geschäftsbericht hat also in erster Linie nicht eine Innensicht des Unternehmens zu vermitteln. Er hat vielmehr die anspruchsvollen, komplexen Erwartungen seiner heterogenen Leserschaft zu befriedigen. Insofern kommt der Inhalt vor der Verpackung. Welche Vision ist dem potenziellen Aktionariat zu vermitteln? Welche Fakten und Zahlen sind dem an der betriebswirtschaftlichen Entwicklung Interessierten mitzugeben? Mit welchen Einblicken in die Unternehmenskultur ist um die zukünftige Mitarbeiterin zu werben?

Diese Rück- und Ausblicke, diese Ein- und Aussichten gilt es sodann in eine gestalterische Form zu bringen. Nicht in irgendeine, sondern in die einzig adäquate: die der Corporate Identity verpflichtete. Nicht ein dekoratives Kleidchen für die Zahlen ist gefordert, sondern die Umsetzung eines längerfristigen visuellen Konzepts. Nur dieses Vorgehen ergibt die richtige Mischung aus Information und Imagepflege, ergibt Kommunikation aus einem Guss. Im Idealfall wird ein solcher Geschäftsreport zum Sammlerobjekt. Dem Geschäftsbericht als Angelpunkt der Kommunikation kommt aber auch eine hervorragende Rolle beim Aktienmarketing zu. Eine Untersuchung bei 460 amerikanischen Unternehmen ergab bereits Mitte der Siebzigerjahre, dass rund 40 Prozent der Börsenbewertung eines Unternehmens von der Kommunikation abhängen.

Ein zentraler, jedoch oft vernachlässigter Aspekt ist das Vorwort. Was der Präsident des Verwaltungsrats oder die Vorsitzende der Geschäftsleitung schreibt oder schreiben lässt, lesen viele als Erstes. Die Aussagen bleiben haften, sofern es sich um solche und nicht um Gemeinplätze handelt. Und damit sind wir bei einem weiteren wichtigen Punkt: bei der Sprache, bei den Formulierungen, bei den Aussagen. Hier liegt vieles im Argen. Denn allzu häufig holt die Kommunikationsabteilung einfach bei den diversen Gremien Texte, Berichte, Prognosen und Analysen ein. Diese werden dann - unterbrochen von grafischen Elementen - aneinander gereiht. Das ist im Normalfall keine gute Voraussetzung für spannende Lektüre. Nicht dass die "Schreibe" aus einer Feder stammen müsste, das wäre wohl auf Dauer auch nicht gerade packend. Aber von professionellen Schreiberinnen und Schreibern müssen die Texte allemal verfasst sein. Diese achten darauf, dass der Stil dem jeweiligen Inhalt angepasst ist. Sie variieren auch die journalistische Form. Das darf neben den Analysen und Berichten durchaus auch einmal eine Reportage aus dem unbekannten Innern des Unternehmens sein. Oder eine Glosse.

Dass die Profis eine lebendige Sprache schreiben, sich eines einfachen Satzbaus befleissigen und Abwechslung in den Wortschatz bringen, ist müssig zu erwähnen. Im Umgang mit angelsächsischen Ausdrücken ist jedoch Vorsicht geboten. Diese mögen im betriebs- und finanzanalytischen Teil angebracht sein, wenn eine deutsche Umschreibung zu umständlich wäre. Auf eine Erklärung der Fremdwörter sollte allerdings nicht verzichtet werden. In den übrigen Textgefässen sind fremdsprachliche Fachausdrücke auf ein Minimum zu beschränken. Beim Vergleich schweizerischer mit angelsächsischen oder deutschen Geschäftsberichten fällt der oft moderate Ton, das helvetische Understatement auf. Ein wenig mehr Selbstbewusstsein würde gewiss nicht schaden. Man muss es ja nicht gleich übertreiben.



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