15.03.2024

20 Minuten

«Die Leitlinien sind kein Papiertiger»

Die Redaktion der Gratisplattform hat ihre gelebte Praxis auf Papier gebannt und erstmals publizistische Leitlinien veröffentlicht. Was das soll und warum gerade jetzt, sagt Désirée Pomper, Chefredaktorin 20 Minuten, im Interview mit persoenlich.com.
20 Minuten: «Die Leitlinien sind kein Papiertiger»
Désirée Pomper, Chefredaktorin 20 Minuten, im Gespräch mit Nick Lüthi, Redaktor persoenlich.com. (Bild: 20min/Matthias Spicher)

Das Dokument zählt 14 Seiten. Damit hält sich 20 Minuten auch beim Umfang seiner neuen publizistischen Leitlinien an das Gebot der Kürze. Das neue von der Chefredaktion gezeichnete Dokument ersetzt das bisherige Redaktionsstatut sowie verschriftlicht unzählige ungeschriebene Regeln, die sich längst zur Gepflogenheit entwickelt hatten. Die sechs Kapitel decken ein sehr breites Spektrum an Standards und Prinzipien ab. Das reicht von handwerklichen Selbstverständlichkeiten, wie die Respektierung der Privatsphäre, über Empfehlungen zu geschlechtsneutraler Sprache bis zu Grundsätzen der Arbeitskultur.

persoenlich.com konnte am Rand der Bilanzmedienkonferenz der TX Group die 20-Minunten-Chefredaktorin Désirée Pomper zu Sinn und Zweck der neuen publizistischen Leitlinien befragen.

Désirée Pomper, 20 Minuten feiert dieses Jahr seinen 25. Geburtstag. Warum veröffentlicht die Redaktion jetzt publizistische Leitlinien?
Dass wir die Leitlinien im Jubiläumsjahr publizieren, ist ein Zufall. Der Grund dafür ist viel mehr, dass es gegenwärtig gesellschaftliche Veränderungen gibt, die dazu führen, dass der Wert der journalistischen Arbeit zunimmt. Und dem wollen wir mit den publizistischen Leitlinien Rechnung tragen.

Warum wird der Journalismus wichtiger?
Ich sehe drei Entwicklungen, denen wir entgegenhalten wollen. Das sind News Fatigue und Content Overload, also Leute, die weniger oder gar keine Lust mehr haben, Nachrichten zu konsumieren, oder die mit der Menge an Informationen, die überall auf sie einprasseln, überfordert sind. Weiter gibt es die Entwicklung der Falsch- und Desinformation. Das verschärft sich aufgrund der sozialen Medien und KI rasant. Daraus ergibt sich das Bedürfnis nach geprüften News. Die Leute wollen wissen, was stimmt und was nicht. Und als dritte Herausforderung sehen wir eine Akzentuierung der Filterblasen. Das heisst, dass sich die Menschen aufgrund der Algorithmen zunehmend in ihrer eigenen Bubble aufhalten und somit viel weniger mit Meinungen konfrontiert werden, die nicht in ihr Weltbild passen.

Wenn sich 20 Minuten erst 2024 publizistische Leitlinien gibt, woran hielten Sie sich bisher?
Wir haben bereits ein Redaktionsstatut, das die Kernelemente, die 20 Minuten ausmachen, wie beispielsweise die ideologiefreie Berichterstattung, umfasst. Die neuen Leitlinien sind viel ausführlicher und nehmen Themen auf, die bisher im Redaktionsstatut keine Rolle spielten, aber bereits gelebter Alltag waren. So wie etwa die Anwendung einer nicht verletzenden Sprache in unserer Publizistik oder der Umgang mit KI.

«An den Leitlinien hat auch die Abteilung Commercial Publishing mitgearbeitet»

Vor sieben Jahren gab es erstmals ein Handbuch «Qualität in den Medien», das für 20 Minuten und Tamedia gültig war. Warum habt ihr nun ein eigenes Regelwerk formuliert?
Die allgemeingültigen journalistischen Standards, die für alle gelten, sind auch in unseren neuen Leitlinien abgedeckt, etwa die Prinzipien der Recherche, Quellenschutz oder Fehlerkultur. Was wir ergänzt haben, sind Eigenheiten von 20 Minuten – zum Beispiel Faktenchecks. Bereits seit 2019 prüft ein eigenes Team besonders knifflige Fälle. Oder auch der Umgang mit unserer Community, mit der wir einen intensiveren Austausch pflegen als die Tamedia-Titel. Daher ist das entsprechend ausführlich dokumentiert. Auch Social Media spielt bei uns eine wichtigere Rolle. Unsere Leitlinien decken weiter die Frage zur Transparenz bei der Werbung oder Native Advertising ab. Auch das gehört zu 20 Minuten. An den Leitlinien hat darum auch die Abteilung Commercial Publishing mitgearbeitet und erklärt, wie wir Werbung, Branded und Sponsored Content als solche ausweisen.

Warum steht das Kapitel «20 Minuten als Arbeitgeber» auch in den publizistischen Leitlinien?
Man kann sich schon fragen, ob das wirklich hier reingehört. Aber ich finde, unsere Qualität und Innovation hängt stark davon ab, welche Arbeitskultur wir pflegen. Ein respektvoller Umgang, Hilfsbereitschaft und Fairness sind die Basis dafür, dass wir gute Arbeit leisten. In diesem Kapitel steht zum Beispiel auch, dass die Idee einer Praktikantin gleich viel wert ist wie die Idee einer Chefin. Diese Offenheit ist eines der Erfolgsrezepte von 20 Minuten. Als junge Journalistin habe ich dem damaligen Chefredaktor Marco Boselli vorgeschlagen, ein Ressort für Video-Reportagen zu gründen – und er hat unkompliziert zugestimmt. Das ist so wichtig. Wir kommunizierten das auch früher schon an die Mitarbeitenden, aber nun haben wir es schwarz auf weiss. Das macht es verbindlicher. Die Leitlinien sind kein Papiertiger, sie leben in der Realität.

Sind die publizistischen Leitlinien einfach eine Bestandsaufnahme des Status quo, oder müssen nun auch Prozesse angepasst werden?
Der grösste Teil dokumentiert den Ist-Zustand. Zusätzlich gibt es natürlich auch vorausblickende Elemente, wie etwa den Umgang mit künstlicher Intelligenz. Im Moment schreibt die KI noch keine Meldungen. Aber es ist wichtig, dass wir jetzt schon geklärt haben, wie wir damit umgehen wollen, wenn das künftig möglich wird.

«Bei einem Regelverstoss haben wir nun eine bessere Handhabe»

Leitlinien müssen gelebt und deren Einhaltung kontrolliert werden. Wie gehen Sie hierzu vor?
Was in den Leitlinien steht, ist schon heute bei allen Ressortleitenden voll verankert und in der täglichen Arbeit eine Selbstverständlichkeit. Es ist darum sicher nicht so, dass wir aufgrund der neuen Leitlinien ein Kontrollregime aufziehen müssten (lacht). Bei einem Regelverstoss haben wir nun eine bessere Handhabe und können auf konkrete Punkte in den Leitlinien hinweisen.

Die Leitlinien sollen nicht nur nach innen wirken, sondern auch nach aussen. Wie wichtig ist diese Aussenwirkung?
Es gibt weiterhin Leute, die glauben, was gratis ist, kann gar nicht gut sein. Das ist für Journalistinnen und Journalisten, die jeden Tag ihr Bestes geben, frustrierend. Darum wollen wir gegen aussen zeigen, dass publizistische Standards und journalistische Eigenleistungen in unserem Arbeitsalltag zentral sind. Die Öffentlichkeit soll wissen, wie wir arbeiten. Die Leitlinien werden deshalb auf unserer Website publiziert, zusammen mit einem erklärenden Newsartikel. Dazu gibt es ein Video, das wir über alle Social-Media-Kanäle distribuieren.

Und danach? Werdet ihr künftig unter jedem Artikel auf die Leitlinien hinweisen?
Das war so nicht geplant, ist aber eine super Idee. Das werden wir punktuell sicher so machen.

Wenn man Ihnen zuhört, entsteht der Eindruck, dass alles super läuft und keine Fehler passieren, weil alle die Leitlinien schon längst verinnerlicht haben.
Natürlich passieren Fehler! Darum haben wir auch das Kapitel «Fehlerkultur» in den Leitlinien. Wir wollen Fehler nicht unter den Teppich kehren, sondern sie offensiv angehen, deklarieren und daraus lernen.

Sie sind seit 2009 bei 20 Minuten. Wie hat sich die interne Diskussion über die eigene Arbeit, die Sie mit den Leitlinien ankurbeln, in dieser Zeit verändert?
Was immer zentral war, vom ersten Tag an, ist die Ideologiefreiheit und Meinungsvielfalt, für die wir einstehen. Das ist Teil unserer DNA und steht darum auch prominent in den publizistischen Leitlinien. Jedem Journalisten, jeder Journalistin, der/die bei uns arbeiten will, sagen wir, dass sie sich bewusst sein müssen, dass es hier nicht um sie und ihre persönliche Meinung geht. Bei 20 Minuten muss man sich in der journalistischen Arbeit mit seiner Meinung zurücknehmen können.

«Es kommt äusserst selten vor, dass ich einseitige Artikel bei uns auf der Seite finde»

Wie oft müssen Sie als Chefredaktorin eingreifen, weil doch irgendwo eine Meinung durchschimmert?
Es kommt äusserst selten vor, dass ich einseitige Artikel bei uns auf der Seite finde. Die Ressorleitenden tragen die Verantwortung und schauen vor der Veröffentlichung sehr genau darauf. Sollte ein Artikel doch Schlagseite haben, besprechen wir das intern und korrigieren wenn notwendig – etwa in Form eine Folgeartikels.

Bei emotional aufgeladenen Themen ist es anspruchsvoll, auf neutralem Terrain stehen zu bleiben. Wie macht ihr das?
Ein gutes Beispiel dafür ist der Messerangriff auf einen Juden in Zürich vor zwei Wochen. Für unsere Berichterstattung haben wir jedes Wort, jeden Satz, jeden Artikel sehr sorgfältig abgewogen. Wir haben sowohl vom Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund SIG, wie auch von der Föderation islamischer Dachorganisationen Schweiz FIDS ein positives Feedback auf unsere Berichterstattung erhalten. Das hat uns sehr gefreut. Es ist einfach wichtig, dass wir unsere Arbeit immer kritisch hinterfragen. Darum laden wir auch regelmässig Gäste an unsere wöchentliche Blattkritik ein, die uns auch mal auseinandernehmen.

Wer um jeden Preis ausgewogen berichten will, riskiert, Konflikte unangemessen darzustellen, weil marginale oder grenzwertige Positionen – im vermeintlichen Bemühen um Ausgewogenheit – ein zu grosses Gewicht erhalten. Wie schützt ihr euch gegen sogenannte False Balance?
Wir haben das wunderbar formuliert … (blättert in den Richtlinien) False Balance war besonders während der Pandemie ein Riesenthema. Die Frage stellt sich natürlich auch, wenn Leute behaupten, die Erde sei flach (blättert weiter). Hier: «Die Redaktion bildet die Pluralität der Meinungen ab, solange sich diese im Rahmen des Rechtsstaates bewegen und deklariert die Position von Minderheiten oder Aussenseitern als solche». Wir wollen dem User nicht unterschlagen, dass es solche Ansichten gibt. Umso wichtiger ist es aber, diese einzuordnen.

Aber ihr werdet trotz dieses Bemühens um Ausgewogenheit auch als «Lügenpresse» gebrandmarkt?
Während der Pandemie war es tatsächlich so, dass an Demonstrationen im Chor «Lügenpresse, Lügenpresse» geschrien wurde, wenn wir unser Mikrofon auspackten. Unsere Journalisten wurden sogar physisch angegangen. Das erleben wir heute glücklicherweise nicht mehr. Aus Bundesbern erhalten wir regelmässig die Rückmeldung, dass wir als äusserst ausgewogenes Medium wahrgenommen werden, das keine Partei übergeht.

In der Politik gibt es mehr als nur zwei Seiten, und ihr könnt nicht immer das ganze Spektrum abbilden. Wie löst ihr das Dilemma?
Eine ausgewogene Berichterstattung bedeutet natürlich nicht, nur die linke und die rechte Seite zu befragen, sondern das ganze Meinungsspektrum aufzuzeigen. Dabei dürfen die Mitteparteien keinesfalls vergessen gehen. Ich glaube, dass wir heute mehr denn je den Sinn darin erkennen, möglichst alle relevanten Meinungen abzubilden, da sich viele Menschen auf Social Media in ihren Filterblasen bewegen.

«Ich hoffe, das trägt dazu bei, auch andere Meinungen zu respektieren»

Ihr wollt also in Filterblasen reinkommen, respektive sie aufstechen. Gelingt das?
Dank unserer zahlreichen Distributionskanäle ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass die Leserinnen und Leser auf einen Artikel stossen, in dem Meinungen vertreten sind, die nicht ihren eigenen entsprechen. Ich hoffe, das trägt dazu bei, auch andere Meinungen zu respektieren und sich auf die Debatte einzulassen. Breit und ausgewogen informierte Bürgerinnen und Bürger sind die Voraussetzung für eine funktionierende direkte Demokratie.

Bei der Distribution setzt ihr stark auf Drittplattformen, die nach ihren eigenen algorithmischen, kommerziellen und politischen Regeln funktionieren. Wie geht ihr mit dieser problematischen Abhängigkeit um?
Ich muss etwas ausholen. Dank Social Media konnten wir in den letzten drei Jahren 20 Minuten in der jungen Zielgruppe als Nachrichtenportal wieder sichtbar machen. Das ist uns gelungen: Inzwischen folgen uns auf diesen Plattformen über zwei Millionen Menschen. Ein erfolgreiches TikTok-Format ist unter anderem «5 News des Tages», das dem jungen Publikum mit Nachrichten in einer Minute die wichtigsten Ereignisse des Tages aufzeigt. Zentral war für uns immer, dass die Plattformen unsere Inhalte nicht aus politischen Gründen zensieren. Das haben wir auch gezielt getestet, etwa mit Beiträgen über die Proteste für mehr Frauenrechte im Iran. Nachdem wir in einer ersten Phase eine grosse Reichweite aufgebaut haben, ist es aber nun seit letztem unser Ziel, die neuen Follower auch auf unsere App zu bringen. Wir müssen jetzt Conversions bolzen.

Was heisst das?
Das bedeutet, dass wir Anreize schaffen müssen, damit die neu gewonnenen Social-Media-Follower auch auf unsere App oder Website kommen.

Wie macht ihr das?
Wir teasern Eigengeschichten an mit dem Hinweis, dass es die ganze Story auf der App oder der Website gibt. Bei allen Videos gibt es zudem einen Abblender mit dem Hinweis, unsere App zu downloaden.

Seid ihr damit erfolgreich?
An Spitzentagen holen wir bis zu 80'000 zusätzliche Unique Clients auf unsere Site. Diese sind äusserst wertvoll für uns, da es sich um neue und junge User handelt.


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