25.02.2015

SRF

"Das ist kein Freipass für uns"

Aufnahmen mit versteckter Kamera sind in der Schweiz erlaubt. Dies hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte am Dienstag entschieden. Er widerspricht damit dem Bundesgericht. Beurteilt wurde ein "Kassensturz"-Beitrag von 2003, in der ein Verkaufsgespräch mit einem Versicherungsbroker heimlich aufgenommen wurde. Persönlich.com hat bei SRF-Chefredaktor Tristan Brenn nachgefragt, wie man mit der neuen Ausgangslage umgehen wird - und ihn zugleich um eine Bilanz nach seinem ersten Amtsjahr gebeten.
SRF: "Das ist kein Freipass für uns"

Herr Brenn, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied, der Einsatz der versteckten Kamera in einer Kassensturz-Sendung von 2003 sei gerechtfertigt gewesen. Hätten Sie damit noch gerechnet?
Wir hofften natürlich auf diesen positiven Entscheid. Wir fühlen uns in unserem Handeln bestätigt und sind dementsprechend sehr glücklich über das Urteil.

SRF-intern galt bisher die Weisung, auf den Einsatz versteckter Kameras zu verzichten.
Gänzlich auf versteckte Kameras haben wir in den letzten Jahren nicht verzichtet. Es gab 2009 einen Fall in der "Rundschau", in der es um Sex mit Minderjährigen in Thailand ging, da waren wir mit versteckter Kamera unterwegs. Aber klar, wir waren insgesamt sehr zurückhaltend.

Das ändert sich nun?
Durch den Gerichtsentscheid hat sich für uns die Ausgangslage verändert. Nun können wir wieder von Fall zu Fall entscheiden.

Das heisst, Sie entscheiden dies?
Ja, versteckte Kameras bedürfen immer der Rücksprache mit dem Chefredaktor.

Wo ziehen Sie da die Grenze?
Ich möchte betonen, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs kein Freipass für den Einsatz versteckter Kameras ist. Diese Recherchemethode werden wir auch in Zukunft nur als letztes Mittel anwenden, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, einen Missstand aufzudecken. Und natürlich muss das öffentliche Interesse in solchen Fällen gegeben sein.

Sie sprechen einen spannenden Punkt an. Das Bundesgericht war der Meinung, es hätte sehr wohl eine andere Möglichkeit gegeben, um das Geschäftsgebaren des Versicherungsmannes zu zeigen: Ein Protokoll aufgrund von Notizen hätte gereicht.
Da bin ich anderer Meinung. Notizen haben niemals die gleiche Beweiskraft wie Bild- und Tonaufnahmen. Sie können bestritten werden und dann steht Aussage gegen Aussage. Bild und Ton sind dagegen unwiderlegbar.

Der Europäische Gerichtshof sieht das ebenso. Seit der Ausstrahlung der Sendung sind mittlerweile 12 Jahre vergangen. Wie viel hat dies SRF gekostet?
Das kann ich nicht sagen, dafür ist unsere Rechtsabteilung zuständig. Für solche Fälle haben wir aber ein Budget, was auch richtig ist.

Für andere Medienhäuser könnte das Budget in solchen Fällen zum Problem werden. Sie sind der Schweizer Justiz gewissermassen ausgeliefert.
Das glaube ich nicht. Auch andere grössere Medienhäuser verfügen über ein Budget verfügen, um solche Fälle gerichtlich weiterziehen zu können.

Im offiziellen Wikipedia-Artikel zum Kassensturz heisst es, der Sendung werde tendenziöse Berichterstattung und eine gezielte Darstellung von Opfer- und Täterrolle vorgeworfen. Stimmt das?
Ich kann das überhaupt nicht nachvollziehen. Die Sendung ist sehr sorgfältig recherchiert. Ihr Journalismus ist zwar anwaltschaftlich, deshalb ist er aber noch lange nicht tendenziös.

Trotz guter Recherche: Ein polemischer Unterton schwingt in den Beiträgen schon manchmal mit.
Das würde ich nicht sagen. Die Sendung hat einfach eine kritische Haltung gegenüber. Hart aber fair. Daran ist nichts polemisch.

Der Gerichtsentscheid fällt ziemlich genau auf ihr einjähriges Jubiläum als SRF-Chefredaktor. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Ich ziehe eine  positive Bilanz. Der Stress ist zwar einiges grösser als zuvor, ich ertrage dies aber gut und mein Amt gefällt mir nach wie vor.

Was für Herausforderungen mussten Sie sich in diesem Jahr stellen?
Es gibt immer viele Baustellen. Eine davon ist sicherlich die Digitalisierung, der Transfer unserer Produkte ins Online. Wir müssen Antworten finden auf die veränderten Gewohnheiten des Publikums bei der Mediennutzung. Das ist für alle Medienhäuser eine grosse Herausforderung. Vieles ist im Fluss und die Anforderungen entsprechend hoch.

Inwiefern?
Als gebührenfinanziertes Unternehmen stehen wir in den Medien oft in der Kritik. Es gilt, damit umgehen zu können und auseinanderzuhalten, welche Kritik berechtigt ist und welche nicht.

Haben Sie in solchen Fällen auch einmal den Rat Ihres Vorgängers Diego Yanez eingeholt?
Ich stehe in einem guten, freundschaftlichen Kontakt zu ihm. Da tauscht man sich schon auch einmal über Geschäftliches aus.

Ursprünglich waren Sie ja Journalist...
Ich bin noch immer einer.

Darauf zielt die Frage: Viele Journalisten verzichten auf eine Stelle als Chefredaktor. Sie wollen an der Front stehen und sich nicht mit administrativen Angelegenheiten beschäftigen.
Das stimmt, ich arbeite nicht mehr an der Front. Manchmal vermisse ich das auch. Trotzdem ist meine Arbeit zum grossen Teil journalistischer Natur. Ich muss täglich publizistische Entscheidungen treffen.

Womit beschäftigt sich der SRF-Chefredaktor derzeit?
Die nationalen Wahlen stehen in diesem Jahr an und wir müssen uns überlegen, wie wir diese journalistisch begleiten werden. Zudem arbeiten wir derzeit am Relaunch der "Arena".

Was darf man da erwarten und wann?
Die Sendung wird voraussichtlich Mitte April mit neuem Konzept und Studio daherkommen. Im Vorfeld des Relaunch werden wir genauer informieren.

Interview: Nicolas Brütsch / Bilder: Keystone/Screenshot SRF



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