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Das Plakat als Spiegel der Gesellschaft

Vor 125 Jahren war die Welt noch eine andere – viele der Herausforderungen, die uns heute beschäftigen, liessen sich noch nicht einmal erahnen. Eine Konstante gibt es aber: das Bedürfnis, ja, die Notwendigkeit, zu kommunizieren. Der menschliche Drang, Botschaften, Informationen, Meinungen und – natürlich – Absatzinteressen in den öffentlichen Raum zu tragen, hat sogar noch zugenommen.

Für diesen Zweck gibt es kein geeigneteres Medium als das Plakat: Beliebt und effizient gleichermassen, verdichtet es Aufbau und Pointe innerhalb einer einzigen Text-Bild-Komposition und ermöglicht so ein Erfassen in Sekundenschnelle.

Ein gelungenes Plakat erregt Aufmerksamkeit, regt zum Denken an, bewirkt eine Reaktion und hat im besten Fall sogar eine Verhaltensänderung zur Folge. Diese Art der Kommunikation braucht eine Bühne, braucht Fläche, braucht ein Netzwerk von Touchpoints. Und genau hierauf basiert die Gründungsidee der APG, die sich im Jahr 1900 angeschickt hat, die Aussenwerbung in der ganzen Schweiz von Genf aus zu revolutionieren. Damit hat die APG nicht nur das Aussehen unserer Städte, Fassaden, Strassenzüge farbiger und kurzweiliger gemacht, sie hat auch die Entwicklung einer eigenen Kunstform befördert: die Plakatgestaltung. In der Schnittmenge zwischen Kunst und Kommerz, Grafik und Typografie wurde ein enormes kreatives Potenzial freigesetzt, wobei sich die Schweizer Szene schon bald einen ausgezeichneten internationalen Ruf erarbeitete. 

Das perfekte Plakat kann weit mehr, als Konsum auszulösen. Es ist der Startschuss für ein internes Zwiegespräch: Wo steht der Mensch mit seinen individuellen Ansichten und Lebensrealitäten im Verhältnis zur Idee auf dem Plakat? Er soll sich fragen: Was bedeutet das für mich? Diese Auseinandersetzung kann weitreichend sein. Sie kann Aktienkurse und Abstimmungsausgänge beeinflussen, sie kann auch gesellschaftlichen Diskurs anregen und Wandel auslösen. Ohne die beherzten Sujets zum Frauenstimmrecht hätte der Ausbau der Grundrechte in der Schweiz womöglich noch länger gedauert. Ein weiteres Beispiel: 1987 wurde das Wort AIDS mehr geraunt als ausgesprochen, zahlreiche Mythen kursierten und verstärkten die Stigmatisierung der Infizierten. Die ikonische erste Welle der Kampagne «STOP AIDS» nutzte die Symbolkraft des Präservativs, um die Aufmerksamkeit weg von diffusen Ängsten, hin zum konkreten Schutz zu lenken. Sie rückte das Tabuthema in den Blick der Allgemeinheit und leistete so einen unschätzbaren Beitrag zur öffentlichen Gesundheit.

Die Welt verändert sich, und die Aussenwerbung mit ihr. Zeitgeist und Medienwandel beeinflussen sie, und das immer wieder zum Guten. Über viele Werbesujets aus vergangenen Jahrzehnten, die munter Stereotype über Geschlecht oder Herkunft reproduzierten, schütteln wir heute den Kopf. Der Werbeträger wurde vielfältiger. Zum Weltformat gesellten sich das Cityformat, das Breitformat, das Grossformat und schliesslich, natürlich, das digitale Plakat. Einschränkungen kommerzieller Werbung, mit denen manche Gemeinden liebäugeln, werden die Innovationen im Bereich alternativer Werbemöglichkeiten weiter befeuern. 

Auch der Konsum selbst, den die APG mit ihren Plakaten ankurbelt, wird heute zunehmend infrage gestellt. Das Medium selbst bleibt davon auffallend unberührt. Konsumkritikerinnen und -kritiker, die etwas auf sich halten, drucken ihre stärksten Botschaften, natürlich, auf ein Plakat.


Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider ist Vorsteherin des Eidgenössischen Departements des Innern.

Dieser Beitrag ist zuerst in der Sonderausgabe «125 Jahre APG/SGA» erschienen, dies als Beilage zur Juni-Ausgabe der Printausgabe von persönlich.

Unsere Kolumnistinnen und Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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