26.01.2014

Wikimedia CH

"Wikipedia geht es um Bildung als kostenloses Gut"

Schnell mal was nachschlagen: Früher griff man dazu zum Brockhaus, heute schaut man auf Wikipedia nach. Aber wie funktioniert die Online-Wissensdatenbank eigentlich genau? Wie zuverlässig ist sie? Und wie viele Schweizerinnen und Schweizer sind bislang dem Spendenaufruf gefolgt? Ein Interview mit Patrick Kenel, langjährigem Wikipedia-Autoren und ehrenamtlichem Präsidenten von Wikimedia CH.
Wikimedia CH: "Wikipedia geht es um Bildung als kostenloses Gut"

Herr Kenel, wer bis vor kurzem eine Seite von Wikipedia aufgerufen hat, wurde von einem gelb unterlegten Spendenaufruf erwartet. Wie dreckig geht es dem Unternehmen, dem Sie vorstehen?
Wikimedia CH ist alles andere als ein Unternehmen, sondern ein gemeinnütziger Verein. Zudem denke ich nicht, dass sich die Leute durch diesen Spendenaufruf genötigt fühlen. Sie verstehen, um was es bei einer werbefreien Wissenssammlung geht, so dass bisher erfreulicherweise immer viel gespendet wurde.

In früheren Jahren waren die Aufrufe dezenter und zeitlich beschränkt. Wie lange werden diese Hinweise noch erscheinen und wie viel Geld haben Sie damit bis dato gesammelt?
Hauptsächlich für diese Spendenkampagnen zuständig ist die Wikimedia Foundation in San Francisco, welche die Wikimedia-Projekte hostet. Als nationaler Verein nehmen wir an den Kampagnen teil. So werden in der Schweiz auch Schweizer Aufrufe auf den Bannern angezeigt und die Spenden sind steuerbefreit. Bis Ende Dezember sind ca. 450'000 Franken gesammelt worden, die Banner waren aber noch bis Mitte Januar aufgeschaltet.



Ist das Modell Wikipedia am Ende? Oder müssten nicht zumindest noch andere Einnahmequellen erschlossen werden? Sie selber erledigen den Job als Präsident ehrenamtlich, wenden viel Zeit auf ohne ein Honorar zu erhalten. Ist das nicht absurd?
Ich habe seit dem Beginn vor fast acht Jahren beim Aufbau des Fördervereins mitgewirkt, aber bis vor kurzem nicht als Präsident. Ich bin einerseits ein langjähriger Wikipedia-Autor, andererseits in der Wikimedia-Bewegung aktiv. Finanziell profitiert habe ich tatsächlich nicht, aber stets eine sinnstiftende Tätigkeit ausgeübt und Freundschaften geschlossen. Mittlerweile kann der Verein nicht mehr ausschliesslich von Ehrenamtlichen geleitet werden. Der Vorstand ist immer mehr strategisch und als Kontrollorgan gefragt.


Sie sind 33 Jahre alt. Was haben Sie danach für Berufsziele?
Ich habe studiert, aber noch keine passende Vollzeitstelle gefunden. Beruflich interessiert bin ich im Medienbereich sowie zunehmend an Gedächtnis- und Kulturinstitutionen. Die Wikimedia-Bewegung befindet sich ja irgendwie an der Schnittstelle. Ein anderer Aspekt wäre die Informatik, aber dafür bringe ich zu wenige technische Kenntnisse mit.



Praktisch alle informieren sich heutzutage über Wikipedia. Die Wenigsten wissen allerdings, wie die Einträge genau zustande kommen und wie zuverlässig die dort zu findenden Informationen sind. Erklären Sie’s uns doch bitte!
Nach wie vor kann jeder, der will, neue Artikel anlegen und abspeichern. Sie müssen relevant, neutral verfasst und mit Quellen belegt sein. Andere können an einem Artikel mitarbeiten und in der Diskussionsseite tauscht man sich über den Inhalt aus. Falls es dabei Konflikte gibt, sollte man freundlich bleiben und sich an die Wikiquette halten. Auch das ist Teil der wenigen Richtlinien, die beim Editieren gelten. 


Die "Brockhaus-Enzyklopädie" – früher Bestandteil jeder bürgerlichen Wohnwand –  steht vor dem Ende. Kann sie durch Wikipedia ersetzt werden?
Das ist gut möglich. Meiner Meinung nach hat das Geschäftsmodell eines gedruckten Lexikons im Internetzeitalter einfach ausgedient. Sachbücher und die Presse bisher glücklicherweise nicht. Die Wikipedia-Artikel sind auf gute Quellen angewiesen.



Welche anderen Online-Nachschlagewerke nutzen Sie? Für welche lohnt es sich Ihrer Meinung nach Geld zu investieren?

Begriffe schlage ich eigentlich nur in der Wikipedia, meist der deutschen oder der englischen, nach. Wenn ich mal ein Online-Wörterbuch benötige, ist es meist PONS, aber auch hierfür gäbe es ein Schwesterprojekt namens Wiktionary, das auf die gleiche Art wie die Wikipedia funktioniert.

Die Schweizer Medienhäuser stecken noch mitten in der digitalen Revolution. Viele schlagen sich derzeit mit dem Gedanken herum, eine "Paywall" zu errichten und ihre bislang gratis erhältlichen Inhalte neu kostenpflichtig zu machen. Blüht das Wikipedia auch?
Nein, das kann man nicht vergleichen. Eine Online-Plattform, die von Freiwilligen betreut wird, hat nicht annähernd die Kosten, die es für digitale Medieninhalte braucht und bei Wikipedia geht es um Bildung als kostenloses Gut. Persönlich bin ich beim Onlinemedienangebot mit "Paywalls" so wie mit herkömmlichen Abos einverstanden. Ich frage mich aber, ob und wofür eine so späte Einführung noch möglich ist.

Sie haben Ihre Tätigkeit für Wikipedia am 22. Dezember 2005 aufgenommen, weil Sie Lücken im Lexikon bemerkt haben, wie sie gegenüber dem "SonntagsBlick" sagten. Wo schwächelt Wikipedia Ihrer Meinung nach heute noch? Wo gibt es noch Lücken?
Es gibt viel mehr deutschsprachige Artikel als damals, aber ausbaufähig ist im Grunde genommen noch alles, ausser die meisten der rund 5000 exzellenten und lesenswerten Artikel. Für diese haben einige wenige Autoren sehr viel Arbeit aufgewendet. Persönlich habe ich einige Vorhaben, mit denen ich mich aber nicht ständig beschäftige. Hauptautor eines Artikels mit Auszeichnung war ich bisher noch gar nicht.



Die Einträge auf Wikipedia sind dynamisch. Sie werden ständig editiert, erweitert, abgeändert, den neuen Umständen angepasst. Welcher Schweizer Eintrag wird eigentlich am häufigsten verändert?

Der Artikel "Schweiz" wird täglich einige tausend Mal aufgerufen. Es könnte sein, dass er auch zu denen gehört, die am häufigsten verändert werden. Auskunft darüber gibt jeweils die Versionsgeschichte eines Artikel.

Wie oft versuchen eigentlich Persönlichkeiten (Herr Köppel war vor Jahren mal ein prominentes Beispiel) auf die Einträge zu ihrer Person Einfluss zu nehmen? Gelangen sie dabei auch manchmal direkt an Sie?
Den Überblick habe ich natürlich auch nicht. Es ist nicht erstaunlich, dass so was versucht wird, auch wenn es anschliessend wieder rückgängig gemacht wird. An mich sind weniger Personen als einige Firmenangestellte gelangt, denen ich auch schon erklärt habe, wie sie relevante, überprüfbare und möglichst unabhängige Quellen in den Text einbauen sollen, damit der Unternehmensartikel besser wird. Aber am besten ist immer noch, Hinweise zuerst auf die Diskussionsseite zu schreiben.

Wem gebührt ein Eintrag auf Wikipedia, wem nicht?

Es ist sehr gut, dass es viel mehr biografische Artikel auf Wikipedia gibt als bei früheren gedruckten Nachschlagewerken. Allerdings befürworte ich auch einschränkende Relevanzkriterien, damit aus der Wikipedia kein allgemeines Verzeichnis wird, was über den Zweck einer Enzyklopädie hinausgeht und wohl auch zur Selbstinszenierung einladen würde. Für wen welche Kriterien gelten, wird oft in Löschdiskussionen verhandelt.

Interview: Adrian Schräder/Bild: Ludo29, Lizenz: CC-BY-SA 3.0 



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