26.01.2023

Ringier Axel Springer Schweiz

Der Beobachter kürt den stossendsten Strafbefehl

Der Beobachter hat den Negativpreis «Fehlbefehl» ins Leben gerufen, um auf Missstände im Strafbefehlsverfahren hinzuweisen. Der erstmals verliehene Preis geht an die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis.
Ringier Axel Springer Schweiz: Der Beobachter kürt den stossendsten Strafbefehl
Die Redaktion hat die Leserschaft dazu aufgerufen, ihr stossende Strafbefehle zu senden. (Bild: Beobachter)

Im Frühling letzten Jahres erschien im Beobachter die Geschichte eines Algeriers, der 75 Tage lang in einem Basler Gefängnis sass, ohne zu wissen warum. Er hatte seinen Strafbefehl nie erhalten. Solche Fälle von sogenannten fiktiven Zustellungen seien nur ein Aspekt von vielen rechtsstaatlich bedenklichen Vorgehensweisen im Strafbefehlsverfahren, wie es in einer Mitteilung heisst.

Deshalb habe der Beobachter seine Leserschaft aufgerufen, stossende Strafbefehle an die Redaktion zu senden. Zudem wurde dieses Anliegen auch in Anwaltskreisen gestreut. Aus den Einsendungen wurden sechs Strafbefehlsdossiers ausgewählt, die einer Jury von drei ausgewiesenen Strafrechts-Expertinnen und -Experten vorgelegt wurden. Dabei erhielt die Jury nicht nur Einblick in den konkreten Strafbefehl, sondern auch in Einstellungsverfügungen oder Gerichtsurteile. Bei den sechs Fällen ging es um angebliche Trunkenheit am Steuer, um ausländerrechtliche Delikte oder dass jemand vergessen hatte, die Nummernschilder abzugeben und dafür eine horrende Busse kassierte. In einem Fall hatte die Staatsanwaltschaft gar die Person verwechselt und den Falschen beschuldigt. 

Die Jury kam zum Schluss, dass der Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis sich am besten eignet, exemplarisch die grundlegenden Missstände im Strafbefehlsverfahren aufzuzeigen: Es wurde ein Beschuldigter ohne genauere Abklärungen verurteilt und damit auch zwei Tage Haft legitimiert, um «einfach mal zu schauen, was passiert», wie die Jury begründete. Solche Strafbefehle hätten den Charakter von Versuchsballonen. Dass trotz mangelnder Abklärung geurteilt werde, komme in der Praxis leider sehr häufig vor, so die Jury in ihrer Begründung. Dieses Vorgehen treffe vor allem sozial schwächere und ausländische Personen, die das Schweizer Rechtssystem nicht kennen oder der Sprache nicht kundig seien. Diese Menschen könnten sich schlechter gegen Fehlurteile wehren und würden zu Unrecht kriminalisiert oder gar ihrer Freiheit beraubt.

Mit dem «Fehlbefehl» möchte der Beobachter nicht einzelne Personen kritisieren, die unter Arbeitsdruck auch mal einen Fehler begehen, wie es in der Mitteilung heisst. Vielmehr gehe es darum, auf die rechtsstaatlichen Mängel des Systems hin zu weisen: Die Beschuldigten müssen nicht einvernommen werden; es fehlt an einer Pflicht, die Entscheide nicht bloss fiktiv, sondern tatsächlich zu stellen und in eine Sprache zu übersetzen, welche die Beschuldigten auch verstehen. Zudem wird die Justizkontrolle durch die Medien erschwert, weil Strafbefehle nur nach viel Aufwand einsehbar sind und oft erhalten die Medien nicht einmal die grundlegendsten Statistiken. Die Missstände im Strafbefehlsverfahren wurden von einem aktuellen Nationalfonds-Projekt wissenschaftlich bestätigt. Zu beachten sei, dass 92 Prozent aller Strafen per Strafbefehl von Staatsanwaltschaften und nicht per Urteil der Gerichte ausgesprochen werden. 

Da die Staatsanwaltschaft Limmattal/Albis den Preis nicht entgegennehmen wollte, wurde er ihr an ihren Sitz gebracht und ihr mittels angemieteter Plakatfläche gratuliert. Der Beobachter betont laut Mitteilung, dass die rechtsstaatlichen Probleme des Strafbefehlverfahrens endlich angegangen werden müssen.(pd/mj)



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