19.07.2000

"Der Blick leidet am meisten"

Sacha Wigdorovits, VR-Delegierter der Zürcher Gratiszeitung 20 Minuten, hat grosse Pläne. So will er nicht nur aus einer belächelten Gratiszeitung das grösste Printmedium der Schweiz schaffen, sondern die "fortschrittlichste und kompletteste Multimedia-Informations-Plattform". Im grossen Interview erklärt der ehemalige Blick-Chefredaktor, warum für den Blick der Zug abgefahren ist, wie er mit seinem Gratisblatt Bern und Basel aufzurollen gedenkt und was für eine wichtige Rolle Heftklammern für 20 Minuten spielen.
"Der Blick leidet am meisten"

Mit 20 Minuten sei der "blutige Zeitungskrieg" im Grossraum Zürich lanciert, wie Sie in schönster Blick-Rhetorik formuliert haben. Es geht also um Leben und Tod einzelner Blätter.

Ich bin vorsichtig mit diesen Begriffen. Aber es ist ein Kampf, den kaum alle drei Gratiszeitungen überleben werden.

Und wer wird sterben?

Die Leserzahlen von DemoScope belegen, dass ZürichExpress und 20 Minuten Erfolg haben. Dass Metropol nur 75'000 Leser hat, ist selbst für uns eine Überraschung. Aber vor 2002 wird es wohl keine Marktbereinigung geben. Da geht es um zuviel Image und Prestige.

Wo soll der qualitative Unterschied zwischen 20 Minuten und Metropol genau liegen?

Wir versuchen, neben den News, den Serviceaspekt viel höher zu gewichten, unsere Palette an Ausgehtipps, Konsumtipps, Discos und Kinoinfos ist viel grösser, weil wir auch mehr in diesen Bereich investieren. Dazu kommt das Design, das moderner und frischer ist. Deshalb sprechen wir auch die jüngeren Leser viel besser an.

Bei den Gratiszeitungen ist das Marketing alles. Wie wichtig ist der Inhalt?

Wir arbeiten nach denselben journalistischen Regeln und mit derselben Ethik wie ein Tages-Anzeiger, eine BaslerZeitung, ein Bund oder eine NZZ. Denn wenn Sie ein gutes Marketing machen für ein schlechtes Produkt, dann funktioniert das langfristig nicht. Die Leute lassen sich auf Dauer nicht für dumm verkaufen.

Die Zeitung ist auch erst rund sieben Monate alt.

Wir müssen unterscheiden: Im Anzeigenmarkt ist 20 Minuten immer noch daran, sich zu etablieren, das stimmt. Aber im Lesermarkt ist die Zeitung heute ein brand. Und nicht nur das: Die ganze Gattung der Gratiszeitungen hat einen neuen Stellenwert bekommen. Bis dato wurden sie zu Recht belächelt als Anzeigenplantagen ohne journalistischen Wert – und jetzt sollen sie sogar in den Verband der Schweizer Presse aufgenommen werden.

Pro Seite haben Sie bis zu 15 Artikel plus Bilder. Wie viele Zeilen sind zu wenig, um noch Fakten transportieren zu können?

Beim Blick haben wir seinerzeit versucht, auf der Front gewisse Dinge in einem einzigen Satz zu sagen. Das ist enorm schwierig. Wir schreiben auch fast alle Agenturmeldungen um. Der Hintergrund ist folgender: Die Jungen lesen auch deshalb immer weniger, weil sie die normalen Zeitungen nicht mehr verstehen. Das zeigen sämtliche Leserforschungen. Diese Barriere versuchen wir abzubauen.

Eine Gratiszeitung also nicht als Einsteigerzeitung, sondern als Ersatz?

Ja und nein. Eine Gratiszeitung kann zum Teil eine Einsteigerzeitung sein. Aber dazu müssten sich die Tageszeitungen ändern. Solange sie nicht realisieren, dass sich bei den Jungen ein ganz anderes Wahrnehmungsverhalten eingebürgert hat, nützt es ihnen nichts, dass wir mit unserer Art von Zeitung ein Revival des Prints eingeläutet haben. Das ist eine Chance für die Tageszeitungen, aber sie müssen sie auch aktiv nutzen.

Das sagt derselbe, der auch gesagt hat: "Die etablierten Zeitungen werden wohl am meisten unter den Gratiszeitungen leiden".

Die Zeitung, die am meisten leidet, das ist der Blick. Offenbar hat er im Raum Zürich bereits 15'000 Stück Auflage verloren. Aber diese Zahl kann ich nicht verifizieren. (Anm. der Red.: Bruno Blaser, dem Verlagsleiter von Blick und SonntagsBlick, sträuben sich ob dieser Behauptung auf Anfrage die Haare: "Das stimmt hinten und vorne nicht. Es sind nicht annähernd so viel. Das wären ja rund 5 Prozent der Auflage, das käme einem Erdbeben gleich.") Andererseits gibt es zum Beispiel NZZ-Leser, die uns lesen und dann ihre Spezialinteressen in der NZZ vertiefen.

20 Minuten als Inhaltsverzeichnis der NZZ?

Genau, als ein ausführliches Inhaltsverzeichnis. Dasselbe wird auch beim Bund in Bern passieren. Für diese Zeitungen sind wir eine Ergänzung.

Ist es eine persönliche Genugtuung, dass der Blick leidet?

Nein, im Gegenteil. Ich wollte ja den Blick damals genau zu einer solchen Zeitung machen, zu einer Volkszeitung anstelle einer Boulevardzeitung. Wir waren auf dem richtigen Weg und hatten das richtige Konzept dazu.

Und Ihre gescheiterten Blick-Pläne wollen Sie jetzt mit 20 Minuten verwirklichen?

Sie werden lachen: 1994 haben Bruno Blaser, der damals Verlagsleiter bei der LNN war und jetzt dasselbe bei Blick ist, und ich der Geschäftsleitung von Ringier eine 16-seitige Einbund-Newszeitung vorgeschlagen. Das Projekt wurde schubladisiert, weil man Angst hatte, dass es dem Blick zu viel Auflage gekostet hätte. Man wollte sich nicht selber kannibalisieren. Jetzt wird er von aussen kannibalisiert.

Also doch eine Genugtuung.

Nur insofern, als sich dieses Konzept doch noch durchsetzt. Aber jetzt ist der Zug für den Blick abgefahren.

Wegen 20 Minuten?

Im wesentlichen schon. Aber im Raum Zürich auch wegen dem ZürichExpress. Und wenn unsere Expansionspläne in Basel und Bern aufgehen, werden wir insgesamt die grösste Zeitung der Schweiz sein und im goldenen Dreieck Bern, Basel, Zürich mehr Leser haben als der Blick.

Und bis wann verdienen Sie Geld damit?

Im dritten Jahr werden wir schwarze Zahlen schreiben, das heisst ab 2002.

Wer trägt bis dann die Kosten?

Die dank dem Effort des Zürcher Wirtschaftsförderers Robert Blancpain in Zürich domizilierte 20 Min-Holding AG gehört zu 55 Prozent der Schibsted ASA in Oslo und zu 45 Prozent der A&A Actienbank. In den nächsten Wochen dürfte sich die Beteiligungsstruktur ändern, weil wegen der geplanten starken Expansion in verschiedenen europäischen Ländern eine zweite Finanzierungsrunde bei grossen Institutionellen stattfindet.

Was kostet es, in der Schweiz eine Zeitung wie 20 Minuten zu lancieren? 25 Mio Fr.?

Wir geben das Budget nicht bekannt. Aber das liegt nicht völlig daneben.

Inklusive Basel und Bern?

Nein, das reicht nicht.

Dann dürften es 40 Mio Fr. für die ganze Aufbauphase sein?

Zum Beispiel.

Basel ist bisher ein hartes Pflaster gewesen. Der Blick ist 1988 mit einer Basler Ausgabe gescheitert und hat 10 Mio Fr. verloren.

Es wird auch für uns nicht einfach. Es wäre ziemlich überheblich, wenn wir die Basler Mediengruppe nicht ernst nähmen. Aber auch Bern wird nicht einfach sein, und Zürich ist erst recht nicht einfach. Da machen wir uns keinerlei Illusionen.

Wie gross werden die Auflagen in Basel und Bern sein und wie viele Leser erwarten Sie?

In Zürich haben wir eine Auflage von 140'000. In Basel werden es 74'000 sein und in Bern 83'000 Stück. Leser wollen wir in Basel 150'000 ansprechen und in Bern 177'000.

Und wann wird in Basel und Bern gestartet?

Das Ziel heisst Herbst, Oktober oder November. Aber die Druckerei der Aargauer Zeitung muss zuerst neue Heftmaschinen installieren, denn wenn wir nicht geheftet sind, erscheinen wir nicht.

Das Wichtigste an 20 Minuten sind die Heftklammern?

Das nicht. Aber ungeheftet flattert eine Zeitung auseinander, und das geht nicht, wenn man im öffentlichen Raum verteilt wird. Das gibt eine enorme Verschmutzung. Das hat Metropol am Anfang feststellen müssen. Und man hat nur eine Chance, einen guten ersten Eindruck zu machen.

Wie viele Personen arbeiten für 20 Minuten?

In Zürich sind es 23 Leute in der Redaktion plus 16 im Verlag. Für Bern und Basel haben wir je vier Redaktoren plus je zwei im Verlag sowie je zwei für die Internetversionen. Im Ganzen werden wir allein 20 Leute fürs neue Internetportal anstellen, sodass wir bis zum Herbst total etwas über 70 Personen beschäftigen werden.

Wie sieht die Zukunft aus?

Wir haben uns nie allein als Zeitung verstanden. Wenn man heute die Jungen ansprechen will, muss man dies auf allen Kanälen tun, die diese Jungen nutzen – über eine moderne Zeitung, über Internet, über SMS, über WAP, bald über mobiles Internet oder Breitband-Internet. Unser Konzept geht in Richtung integrierte Kommunikation, aber wir können nicht alles gleichzeitig machen.

Was machen Sie zuerst?

Im Moment sind wir daran, die Zeitung weiter zu entwickeln, mit dem Ziel, Internet und Zeitung zu verschmelzen, und zwar mit einer Konsequenz, die sonst keine Zeitung weltweit an den Tag legt. Heute brauchen wir die Zeitung noch, um das Internet zu pushen, in fünf Jahren wird das nicht mehr nötig sein.

Wie weit wollen Sie in einem Jahr sein?

Zurzeit arbeitet ein Team von Leuten aus der Schweiz und aus Norwegen am Internetportal 20 Min im Airgate Zürich. Bis in einem Jahr ist 20 Minuten die fortschrittlichste und kompletteste Multimedia-Informations-Plattform der Schweiz.

(Interview: Thomas Pfister/Handelszeitung)

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