Jeden Abend setzt sich Mario Aldrovandi in seinem südfranzösischen Domizil an den Computer und macht sich an die Arbeit. Er sichtet und ordnet die Quellen zum Ukrainekrieg, die er im Laufe des Tages zusammengetragen hat, zumeist Telegram-Kanäle und Konten der Plattform X, aber auch Weltmedien, die aus dem Kriegsgebiet berichten. Daraus destilliert er rund ein Dutzend Meldungen, die er für die wichtigsten des Tages hält. Gegen 22 Uhr diesen Montag verschickt er Newsletter Nummer 901 an ein paar Tausend Abonnentinnen und Abonnenten. So geht das seit dem 20. März 2022, jeden Tag, ohne Pause bisher.
Zurück in den Nachrichtenjournalismus katapultiert
Mario Aldrovandi, Ende 60, pensionierter Journalist, mit früheren Stationen unter anderem bei Radio 24, Fernsehen SRF, TV Ostschweiz, wollte eigentlich kürzertreten, nachdem er 2021 ins malerische Mittelalterstädtchen Aigues-Mortes am Rande der Camargue gezogen war. Ein paar überschaubare kleinere Mandate hätten ihm eigentlich gereicht, um den Unruhestand einigermassen entspannt zu geniessen. Doch dann kam der 24. Februar 2022, der ihn zurück in den Nachrichtenjournalismus katapultierte.
Als die russische Armee in die Ukraine einfiel, war ihm sofort klar, dass er etwas machen wollte: «Ich bin in einer antifaschistischen Familie aufgewachsen. Mein italienischer Grossvater kämpfte mit den Internationalen Brigaden im Spanischen Bürgerkrieg und ist dort gefallen.» Die Parallelen lagen für ihn auf der Hand: Den Überfall Russlands sieht er als Akt eines faschistischen Regimes. «Zum Kämpfen bin ich nicht mehr frisch genug. Darum mache ich, was ich kann: informieren», sagt Aldrovandi im Gespräch mit persoenlich.com.
Seine Sympathien für den Widerstand der Ukraine lassen sich aus seinen täglichen Texten durchaus herauslesen. «Wenn der Ukraine ein militärischer Vorstoss gelingt, dann berichte ich breiter, als wenn den Russen einer gelingt. Aber ich berichte über beides und zeichne kein Heile-Welt-Bild», erklärt der Journalist. Insofern sei der Newsletter schon politisch gefärbt, «aber immer quellengetreu», betont Aldrovandi.
Telegram als wichtigste Plattform
Zu den Quellen, die er verwendet und verlinkt, zählen regelmässig auch solche aus Russland, etwa Informationen amtlicher Stellen, wie der Armee oder Beiträge privater Blogger, zumeist veröffentlicht auf Telegram. Zum überraschenden Vorstoss der ukrainischen Armee auf russisches Territorium in der Region Kursk habe er bisher mehr Informationen bei russischen Bloggern gefunden.
Telegram dient Aldrovandi als wichtigster Fundus bei der Suche nach News. «Bei uns ist das eher eine Plattform für Verschwörungsphantasten, in Russland und der Ukraine ist Telegram ein Massenphänomen», weiss der Journalist. Da er selbst weder Ukrainisch noch Russisch versteht oder spricht, nutzt er für die Übersetzung der Originalquellen das Übersetzungsprogramm DeepL Pro.
Rund 50 Telegram-Konten hat er fix auf dem Radar, dazu noch gegen 40 auf der Plattform X (vormals Twitter), das meiste davon Primärquellen. Damit ist er bisweilen schneller als redaktionelle Medien und kann Informationen liefern, die Redaktionen nicht oder noch nicht für ihre Berichterstattung berücksichtigt haben. Als der Tages-Anzeiger jüngst zum Brand im AKW Saporischschja nur den russischen Statthalter zitierte, der als Ursache ukrainischen Beschuss nannte, vermeldete Aldrovandi im Newsletter, der Rauch stamme von Autoreifen, welche die Russen direkt unter dem Kühlturm angezündet hatten, um eine Gefahrenlage zu simulieren und die IAEA-Experten dazu zu zwingen, Druck auf die Ukraine auszuüben; in dem Fall die plausiblere Erklärung, zumal es keine Belege für einen Beschuss gab.
Natürlich ist auch ein Newsletter-Herausgeber nicht vor Fehlern und Fehleinschätzungen gefeit. Doch die Quote ist gemessen am Output tief. «Bisher habe ich nur zwei Mal etwas geschrieben, das sich im Nachhinein als falsch herausgestellt hat. Das habe ich im Folgenewsletter korrigiert», sagt Mario Aldrovandi. Zur Qualitätskontrolle gehört es auch, die verwendeten Quellen auf ihre Glaubwürdigkeit zu überprüfen, allenfalls auszusortieren und immer nach neuen Informationsangeboten Ausschau zu halten.
Das Archiv wächst und wächst
In nun bald zweieinhalb Jahren hat er sich ein regelmässiges Publikum von geschätzt 8 bis 15’000 Leserinnen und Lesern erschrieben. Das lässt sich darum nicht so genau beziffern, weil er die Inhalte des Newsletters neben dem E-Mail-Versand auf mehreren anderen Plattformen platziert, vornehmlich auf Facebook und Instagram. Ausserdem sind alle inzwischen 901 Newsletter auf der Website ukraineaktuell.com abgelegt, die Interessierten als Archiv dient und bei der Newsletter-Produktion als wertvolles Arbeitsinstrument verwendet werden kann, um frühere Vorgänge zu recherchieren.
Aber wer liest denn eigentlich all die News zum Ukrainekrieg? Sein Publikum kennt Aldrovandi nur beschränkt, er geht aber davon aus, dass es mehrheitlich, so wie er selbst, pro-ukrainisch tickt. Rückmeldungen auf seine Arbeit erhält er nur selten, ab und zu ein Hinweis von ehemaligen Kollegen, schau dir doch noch dieses oder jenes Video an. «Was ich mache, läuft unter dem Radar», findet darum der Journalist. Das mag auch daran liegen, dass er nicht die grossen Einordnungen und Meinungsstücke zum Ukrainekrieg liefert, die Anlass zu Diskussionen geben oder für Kontroversen sorgen. «Das ist eine Frage der Persönlichkeitsstruktur», sagt Aldrovandi im Gespräch. «Ich war nie der grosse Kommentator als Journalist.»
Selbst Fachleute, die sich beruflich intensiv mit der Ukraine befassen, kennen den Newsletter nicht, wie eine Stichprobe von persoenlich.com ergab. Was auch heisst: Bei Werbung und Distribution gibt es Luft nach oben. Sein Sohn hilft ihm zwar, die Inhalte des Newsletters auf Instagram aufzubereiten. Aber sonst ist ukraineaktuell.com ein Einmannbetrieb. «Ich könnte schon noch Unterstützung gebrauchen und wäre auch offen dafür», sagt Aldrovandi, zumal ein Ende des Newsletters nicht absehbar ist. Zwar möchte er nicht ein Leben lang über die Ukraine berichten. «Aber solange es Krieg gibt, mache ich weiter.» Auch deshalb, weil er den Widerstand und die Leidensfähigkeit der Ukrainer bewundert, obwohl er selbst noch nie im Land war und auch keine Ukrainer persönlich kennt.
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