von Nick Lüthi
Neue Chefredaktion beim Tages-Anzeiger, neue Struktur der Tamedia-Zeitungen. Seit letztem Montag funktionieren die Bezahlmedien der Zürcher TX Group nach einer neuen Formel. Einer ihrer Väter ist Mathias Müller von Blumencron. Der deutsch-schweizerische Doppelbürger verfügt über eine reichhaltige Erfahrung im Umgang mit der digitalen Transformation traditioneller Medienmarken. Während rund 20 Jahren beschäftigte ihn der Medienwandel in chefredaktioneller Verantwortung bei Spiegel, FAZ und Tagesspiegel.
In den letzten vier Monaten stellte er bei Tamedia in seiner Funktion als Chef Publizistik und Produkte unter CEO Andreas Schaffner einiges auf den Kopf und auf die Beine. Vieles ist noch unfertig, aber das gehört zum Konzept, um schneller zu werden und auf Entwicklungen und Einsichten reagieren zu können. Im Gespräch mit persoenlich.com erklärt Müller von Blumencron, wie die Tamedia-Zeitungen von Tagi bis BZ, von BaZ bis Landbote verstärkt im Verbund beim Publikum in der Deutschschweiz punkten sollen.
Was hat den Ausschlag dafür gegeben, Tamedia neu aufzustellen?
Das ist eigentlich relativ einfach. Wir wollen schneller mehr digitale Abonnentinnen und Abonnenten gewinnen. Wir sind im letzten Jahr nicht schnell genug vorangekommen und haben darum sehr gründlich überlegt, was wir tun können, um das Ziel besser zu erreichen.
Wie sollen die Leserinnen und Leser profitieren?
Der Tages-Anzeiger und die Regionalzeitungen boten schon bisher eine sehr gute Orientierung. Aber wir hoffen sowohl beim Tages-Anzeiger als auch in Bern, in Basel und im Zürcher Umland noch überzeugender für unser Publikum zu werden.
Was heisst «überzeugender»?
Dass wir mit unseren Themen, dem Inhalt und den digitalen Formen neues Publikum gewinnen. Das Interessante an der Entwicklung ist ja, dass wir uns wesentlich mehr Gedanken machen als früher, was das Publikum von uns erwartet. Wir können niemanden zwingen, ein Abo zu kaufen, wir können nur überzeugen. Die Nützlichkeit des Journalismus spielt deshalb heute eine viel stärkere Rolle als früher. Das bedeutet nicht nur mehr klassischen Nutzwert, sondern auch eine komplexe Geschichte herunterzubrechen auf wenige Punkte, sodass unsere Leserinnen und Leser möglichst wenig ihrer kostbaren Zeit benötigen, um die essenzielle Information aufzunehmen.
Der Tages-Anzeiger, schon bisher das Flaggschiff von Tamedia, soll weiter gestärkt werden. Was heisst das genau?
Wir wollen noch verlässlicher auf der schnellen Ebene sein, noch gründlicher in Analysen und Storys. Dazu soll es mehr Nutzwert geben, mehr Inspiration durch Debatten von nationaler Relevanz und deutlich mehr Energie für unsere Podcasts, die schon jetzt ausserordentlich erfolgreich sind. Um diese im Digitalen so entscheidenden Kompetenzen zu stärken, haben wir die Chefredaktion extra entsprechend umgebaut. Für jede dieser Kompetenzen, also Newsmanagement, Storys und Nutzwert sowie Podcasts und digitale Innovationen, ist ein Mitglied der neuen Chefredaktion verantwortlich. So wollen wir schneller mehr Leserinnen und Leser ansprechen, die wir bisher noch nicht erreicht haben.
«Journalisten schätzen es, wenn sie eine publizistische Heimat haben.»
Eine andere Neuerung betrifft die Umbenennung der bisherigen Zentralredaktion. Die ehemalige Redaktion Tamedia heisst nun Redaktion Tages-Anzeiger. Warum ist eine Namensänderung so wichtig?
Journalisten schätzen es, wenn sie eine publizistische Heimat haben. Tamedia war bisher die zentrale Redaktion für all unsere Publikationen. Aber wenn jemand fragt, wo man arbeitet, und die Antwortet lautet dann Tamedia, sagen viele Leute: Das habe ich aber noch nie gehört. Wenn die Antwort dagegen Tages-Anzeiger lautet, sagen alle, klar, kenne ich. Ich denke schon, das ist etwas, worunter viele leiden, die in einer Zentralredaktion arbeiten, dass sie nicht durch eine klar erkennbare Marke unmittelbaren Austausch mit ihrem Publikum haben.
Bedeutet diese Änderung nicht auch eine Zurückstufung der Regionalzeitungen? Bisher bezogen sie den Mantel von «ihrer» Redaktion Tamedia, nun sind sie quasi zu Bittstellern degradiert und müssen beim Tagi um Artikel betteln.
Wir sehen das genau andersrum. Eines der wichtigsten Projekte der neuen Chefredaktion ist es, einen noch besseren Austausch mit den Regionalmedien zu pflegen als bisher schon.
Wie profitieren die Regionalzeitungen von diesem Austausch?
Es gibt sehr interessante Geschichten in den kleineren Ecken des Landes, bei denen man plötzlich realisiert, dass es sich um Phänomene handelt, die in der ganzen Schweiz interessieren. Die finden dann beim Tages-Anzeiger eine grössere Plattform.
Wenn Tamedia den Lokaljournalismus nur noch nach seiner nationalen Verwertbarkeit beurteilt, dann verschwinden jene Themen, die nun mal nur lokal interessieren.
Es gibt verschiedene Ebenen des Lokaljournalismus. Einmal geht es darum, im Kleinen das Grosse zu entdecken. Dann gibt es auch die Spielart, das Grosse herunterzubrechen auf die unmittelbare Umgebung. Ich beobachte eine Entwicklung in Bern oder in Washington und frage dann, was das nun für mich bedeutet. Und die dritte Aufgabe, die ich auch für sehr wichtig halte, ist die eigentliche Lokalinformation, die tatsächlich nur die unmittelbare Umgebung interessiert.
Die hat einen schweren Stand, weil sie sich kommerziell nicht rechnet.
Wenn man sich nur nach der Statistik richtet, dann ist das Produkt nicht attraktiv genug. Guter Lokaljournalismus enthält auch eine gehörige Portion an Information, die tatsächlich nur für das lokale Publikum relevant ist. Solche Geschichten müssen unbedingt Platz haben. Wenn wir damit werben, dass wir uns mit dem Landboten besonders um Winterthur kümmern, dann muss da auch eine grosse Portion Winterthur drinstecken.
«Wir entwickeln gerade mikrolokale Newsletter, die kleine Areale abbilden.»
Es gibt aber nicht nur Winterthur. Wie will Tamedia in der Fläche der Schweiz präsent bleiben?
Durch vielerlei Massnahmen. Wir entwickeln etwa gerade mikrolokale Newsletter, die kleine Areale abbilden. Den Kanton Bern haben wir beispielsweise auf 30 Areale heruntergebrochen für die es nun je einen wöchentlichen Newsletter geben wird. Darin finden unsere Leserinnen und Leser neben unseren eigenen Artikeln auch Meldungen von Behörden oder der Polizei, die wir aus dem Netz aggregieren. Wir haben diesen Newsletter in der Umgebung von Winterthur getestet und damit in einigen Regionen 25 Prozent der Bevölkerung erreicht. Das sind zwar zuweilen nur wenige hundert Personen in absoluten Zahlen. Aber die Versuche haben so interessante Resultate gebracht, dass wir das Modell nun ausweiten.
Das Ziel von 200'000 Digitalabos per Ende 2022 hat Tamedia deutlich verfehlt. Wie schafft man es, trotz dieses Drucks nicht nervös zu werden?
Das ist sicherlich eine Herausforderung für die Verantwortlichen in jeder Redaktion, nicht nur bei uns. Auf der einzelnen Redakteurin, dem einzelnen Redaktor lastet heute ein deutlich grösserer Produktionsdruck als noch vor 15 oder 20 Jahren. Ich muss heute als Journalist viel mehr Aufgaben im Kopf haben, von Recherche über Social Media bis Podcast. Wir müssen natürlich aufpassen, dass wir unsere Kolleginnen und Kollegen nicht überfordern.
Gleichzeitig gibt es klare Vorgaben und Erwartungen.
Wir wollen ein Stückchen mehr unternehmerische Verantwortung in die Redaktionsarbeit bringen. Eine Redaktion soll auch verantwortlich sein für ihren unternehmerischen Erfolg. Darum gibt Tamedia jeder Redaktion drei Kennzahlen als Vorgabe, nämlich Reichweite, Neugewinnung von Abonnentinnen sowie Abonnenten und ein Faktor, der uns sagt, wie viele Abonnentinnen und Abonnenten ihr Abo in den letzten Wochen genutzt haben. Diese drei Faktoren sind für uns die massgeblichen Zahlen, die auch im Newsroom präsent sein sollen.
«Wir sind von unseren Marken überzeugt und wollen, dass sie reüssieren.»
Was geschieht, wenn eine Redaktion ihre Anforderungen nicht erfüllt?
Dann gibt es natürlich zuallererst Gespräche und wir diskutieren, was wir besser machen könnten; wie wir unser Publikum besser erreichen. Diese Orientierung an dem, was die Leserinnen und Leser von uns erwarten, ist sehr wichtig. Das ist ja das Spannende: Wir erleben eine Zeit, in der sich erstmals Journalismus aus Journalismus finanzieren muss. Das stimmt natürlich nicht zu 100 Prozent, aber der Werbeanteil ist erheblich geringer geworden. Das bringt übrigens auch den Vorteil mit sich, dass wir unabhängiger berichten können.
Und was geschieht, wenn trotz der Gespräche die Zahlen weiterhin nicht stimmen – was ja vorkommen kann?
Dann schrauben wir weiter am Inhalt und am Konzept. Wir sind von unseren Marken überzeugt und wollen, dass sie reüssieren.
Sie stehen seit 2013 bei Tamedia in der Verantwortung, zuerst als Beirat für die Digitalisierung, später als Verwaltungsrat. Wo steht Tamedia heute?
Wir sind mitten in der Transformation, wie alle andern auch. Und ein Ende ist nicht absehbar. Wir erleben auch in der Publizistik, was in den übrigen Teilen der Gesellschaft passiert. Alles dreht sich ein bisschen schneller. Darum müssen wir uns stärker als flexible, sich zügig bewegende und auch schnell reagierende Organisation aufstellen. Tamedia ist da bisher sehr gut vorangekommen. Ich bin in vielen Punkten absolut begeistert, was für eine Power, was für eine publizistische Leidenschaft in Redaktionen und Verlag steckt. Dazu empfinde ich es als menschlich sehr bereichernd, mit den Kolleginnen und Kollegen in diesem Haus zusammenzuarbeiten.
Könnte Tamedia auch schon weiter sein, als man jetzt ist?
Ich finde es immer etwas schwer, rückblickend zu beurteilen, ob wir das eine oder andere richtig gemacht haben. Wir sind jetzt im März 2023 und müssen überlegen, wie wir die Weichen stellen. Die Allerwenigsten sind genau da, wo sie hinwollten. Aber was man auf Tamedia bezogen sagen kann: Wir sind zu langsam vorangekommen in den letzten Jahren. Insofern wollen und müssen wir uns nun schneller bewegen.
Ihr Mandat läuft bis Ende 2024. Ist das eine Erleichterung oder eine Belastung, zu wissen dass nur eine begrenzte Zeitspanne für so grosse Aufgaben zur Verfügung steht?
Ich denke nicht in solchen Zeiträumen. Und es würde auch nichts an der Faszination für das ändern, was wir hier gerade machen. Wir haben die Chance, das führende Medienhaus der Schweiz, das mitten in der digitalen Transformation steht, schneller voranzubringen als bisher. Egal, ob das ein halbes Jahr oder zwei Jahre dauert. Im Moment gucken weder Andreas Schaffner noch ich auf die Uhr, sondern überlegen ständig, wie wir gemeinsam mit unseren Kolleginnen und Kollegen am besten vorankommen.
Kommentare
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Victor Brunner, 13.03.2023 08:18 Uhr
MvB zum Lokaljournalismus; "Ich beobachte eine Entwicklung in Bern oder in Washington und frage dann, was das nun für mich bedeutet". Falsch, Lokaljournalismus hat nichts mit Bern oder Washington zu tun, sondern mit Meilen und Uetikon und der lokalen Betrachtungsweise und Analyse. Die Digitalisierung hat die Medienlandschaft verändert, nicht aber das Bedürfnis nach lokaler Information und Fastfood-Artikeln!