TV-Kritik

Die fiese Methode des Jürg Jegge

Im Frühjahr platzte der Mega-Skandal: Der Zürcher Jürg Jegge, einst als «Lehrer der Nation» und «Vorzeigepädagoge» gefeiert, hatte jahrzehntelang immer wieder Schüler sexuell missbraucht. Er gab es notgedrungen zu. Ans Tageslicht gekommen war die Affäre durch das erschütternde Buch «Jürg Jegges dunkle Seite» (Wörterseh-Verlag), das Jegge-Opfer Markus Zangger zusammen mit dem Autor Hugo Stamm geschrieben hatte (persoenlich.com berichtete). Kein Wort in der «DOK», dass die Schande erst dadurch landesweit bekannt geworden worden war! 

Im Gegensatz zu den Printmedien und Telezüri hielt es das Schweizer Fernsehen im April erst dreieinhalb Tage nach der aufsehenerregenden Medienkonferenz mit Zangger für nötig, auf diesen schweren Fall zu reagieren. Jürg Jegge war in den 1980er-Jahren ein gehätschelter Dauergast und Mitarbeiter von Schweizer Radio und Fernsehen. Im TV hatte er die unsägliche Sendung «Telespiel» moderiert.

Am Donnerstag sendete SRF zur besten Sendezeit ihre 60-minütige «DOK: Das System Jegge» von Karin Bauer. Neben Markus Zangger erläuterten in dem Film noch weitere Missbrauchsopfer die fiese Methode ihres Lehrers, der die vermeintliche «Dummheit» seiner Schüler mit Sex kurierte. «Sehr intensive Einzelbeziehungen», lautete Jegges Schulprogramm. Ein Betroffener: «Es ging immer nur um Berührungen des Penis.»

Erschütternd in dem Film der mehrfache Auftritt des schwer leidenden 48-jährigen Paul, durch Alkohol, Heroin und Seelenschmerz zu einem menschlichen Wrack geworden. Nach seinen Angaben wurde er sieben Jahre lang von Jegge missbraucht – und bekam von diesem bis heute rund 14’000 Franken «Schweigegeld». Paul: «Damit ich die Schnauze halte.» Und: «Ich habe ihn an den Eiern.»

Das Schweizer Fernsehen berichtete früher laufend über sein Lieblingskind Jürg Jegge und dessen Schulprojekte in Embrach und Lufingen. Neunmal allein über den «Märtplatz». Auch bei Röbi Koller im damaligen «Quer» war der Lehrer gern gesehener Gast.

Seinerzeitige Schulpfleger, Stiftungsräte, Kollegen und Freunde von Jegge wurden im Film gefragt, warum sie den Pädagogen trotz starker Kritik an seinem antiautoritären Stil gewähren liessen. Fazit: Es wurde zwar gemunkelt, aber niemand getraute sich, genauer hinzuschauen. Einigen scheinen die Schwere des Falles bis heute nicht zu realisieren. Selbstkritik geht ihnen ab.

Grausig in der «DOK» ist der Auftritt von Hans Rothweiler, ehemaliger Projektleiter der Zürcher Erziehungsdirektion. Der einstige Chefbeamte lächelnd über seine Zeit und Freundschaft mit Jürg Jegge: «Wir haben zusammen gefressen und gesoffen.» Jegge selber wollte in dem Film keine Stellung nehmen.

Der Film «Das System Jegge» war kritisch im Ansatz, liess die Zuschauer betroffen, aber ziemlich ratlos zurück. Und Opfer Markus Zangger durfte am Schluss noch in einem Satz erwähnen, dass er ein Buch über die scheusslichen Ereignisse geschrieben hat. 

Die Zürcher Staatsanwaltschaft gab eben bekannt, dass sie das Verfahren gegen Jegge wegen Verjährung einstellen will. Gerechte tun nicht immer das Rechte.


René Hildbrand
René Hildbrand ist Journalist, langjähriger Fernsehkritiker und Buchautor. Während 27 Jahren war er für «Blick» tätig, danach Chefredaktor von «TV-Star».

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