04.09.2014

Fabulierer statt Journalisten

Es ist der unaufhaltsame Niedergang der gedruckten Presse, der alle Veränderungen der Medienlandschaft überstrahlt. Dabei sind andere Entwicklungen ebenfalls von Bedeutung. So hat die Atomisierung der Informationsquellen gewichtige Auswirkungen auf das Angebot im Internet. In der Auslandsberichterstattung überstrahlen die Portale des "Guardian", der "New York Times" und des "Spiegel" alle anderen internationalen Medien. Diese haben ihre entsprechenden Ressourcen zurückgefahren und müssen sich deshalb ohne grossen Imageverlust vermehrt auf diese wenigen Quellen stützen, die sie oft ohne Quellenangaben plündern. Anders als früher kann man sich heute mit hart erarbeiteten Primeurs kaum mehr profilieren, da diese innerhalb von Minuten von einer Vielzahl von Konkurrenten weltweit weiterverbreitet werden.

Wie aber kann sich ein neues Online-Portal in einer solchen Situation Beachtung verschaffen? Einen neuen, bemerkenswerten Ansatz hat das amerikanische Portal Vox gefunden, das mehrheitlich ernsthafte Infomationen in anderer Form präsentiert. So versucht man das Interesse des flüchtigen Lesers etwa mit folgendem Ansatz zu wecken: "Everything you need to know about ISIS". Damit wird suggeriert, dass man die wichtigsten Elemente eines aktuellen Themas seriös und mundgerecht eingedampft hat und damit einen Mehrwert anbietet.

Schwieriger erscheint die Ausgangslange für einen Schweizer Newcomer wie Watson. Dort liefert man die Grundinformationen wie die bereits eingeführten Portale. Angereichert wird das Angebot mit Meinungsstücken, mit denen man Aufmerksamkeit erzielen will. Aber auch damit erreicht man keinen ernsthaften Mehrwert in den Dimensionen der angepeilten Klickzahlen. Und deshalb muss man ganz tief in eine altbewährte Boulevardkiste greifen: zu Wundertüten-Titeln, mit denen die Neugier auf Teufel komm raus geweckt werden soll. Wegen des beinharten Konkurrenzdrucks wird diese Manie zurzeit in immer groteskere Bereiche geführt. Ein willkürlich gewähltes Beispiel von Watson: "Sie erraten nie, was fünf Flaschen Rivella, drei Smarts und eine Entenfamilie mit der Leichtathletik-EM in Zürich zu tun haben." Die Antwort liefert dann der Artikel: Gar nichts. Das Ganze ist blosser Unfug. Es werden irgendwelche irrelevanten Vergleiche zu Leichtathletik-Rekorden aufgeführt, die absolut inhaltsleer sind. Mit diesem Ansatz liefert man nicht einmal einen minimalen Unterhaltungseffekt, sondern lässt den Leser, den man angelockt hat, meist mit einer Enttäuschung zurück. Beispiel 2: "Sie werden nie glauben, wie viel Geld Paris Hilton fürs Rumstehen verdient. Nein, halt: Sie WERDEN es glauben, aber den Kopf schütteln." Dieses Konzept – Erwartungen wecken, Sensationelles versprechen, die Langeweile verwalten – ist noch öder und inhaltsleerer als beim lange Zeit sehr beliebten Spiel Trivial Pursuit, wo man sich zumindest noch der Illusion hingeben konnte, etwas tendenziell Sinnvolles oder Spannendes erfahren zu können.

Im Zeitalter von Buzzfeed, von frei erfundenen, getürkten und unsinnigsten Listicles ("Die zehn schönsten Toiletten der Schweiz"), ist dies bei Portalen, die sich auch mit den zentralen Fragen unserer Zeit auseinanderzusetzen bemühen, eine Kapitulation vor der Sogwirkung des Banalen. Und da ohne Eintrittsbarrieren jeder jeden locker kopieren kann, muss die Schraube wohl immer weiter angezogen werden. Damit ist der Tag nicht mehr fern, an dem Journalisten von den Fabulierern meilenweit überstrahlt werden, die mit ihren wirren Titelzeilen und Unsinngeschichten quasi automatisch die allerhöchsten Klickzahlen einfahren. Das heisst, bis jemand mit einem noch sinnentleerteren inhaltlichen Unfug Furore macht.



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