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Wieder sind wir in die Falle getappt

Am Anfang war das Messerstecher-Inserat. Dieser Skandal liegt inzwischen 25 Jahre zurück. Seither werden in der Politwerbung immer mal wieder unsägliche Sujets in die Medienarena geschoben. Das Muster ist stets dasselbe: Ein Leadmedium erhält das Sujet exklusiv, andere Medien ziehen sofort nach, weil solche Themen viele Klicks generieren.

Zigtausend Leute teilen es reflexartig auf Facebook und Twitter, nicht alle sind echt empört, sondern spekulieren auf Likes. Jedesmal steht alsbald die Forderung im Raum, dass die Provokateure sich entschuldigen und das Sujet zurückziehen. So hält sich das Thema über mehrere Tage, vielleicht sogar Wochen. Es sind die Gegner der SVP, die mit ihren fiebrigen Reaktionen für eine enorme Reichweite sorgen. Das Muster funktioniert immer noch, die Gegner tappen wieder und wieder in die Aufmerksamkeitsfalle, jedes Sujet geht viral durch die Decke.

Zurzeit enerviert sich ein Teil der Nation über einen Schweizer Apfel, der von fünf Würmern zerfressen wird. Sie symbolisieren andere Parteien und – natürlich – die EU (persoenlich.com berichtete).

Klar, die Bildsprache erinnert an die Nazi-Rhetorik der Dreissigerjahre («Ungeziefer»). Deshalb dürfe man nicht schweigen, argumentieren viele. Ich stimme zu. Das Sujet sollte man allerdings nicht weiterverbreiten, weil es eine enorme Suggestivkraft hat. Was auffällt: Viele Gegner kommen nicht über ein «Pfui, ihr seid doch braune Trottel!» hinaus. Mit Verlaub, aber dieses Niveau ist auch bescheiden.

Mit dem Apfel-Würmer-Sujet gewinnt die SVP am 20. Oktober kaum zusätzliche Stimmen, aber sie hat sich damit einmal mehr die Aufmerksamkeit geholt und wir diskutieren über ein Thema, das in ihrem Drehbuch steht. Der Effekt: Die Parteimitglieder werden bei Laune gehalten, zugleich kann sie von den drängenden Problemen wie der Klimakrise oder den Krankenkassenprämien ablenken.

Schockierende Plakate und Inserate sind in der Schweizer Politwerbung keine Erfindung der SVP. So griffen sich in den Dreissigerjahren die Kommunisten und Faschisten regelmässig heftig an. Eines der damaligen Sujets besteht aus einer furchterregenden Fratze von Stalin, der ein Messer zwischen den Zähnen hat.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konzentrierten sich die Parteien darauf, ihre eigenen Stärken in den Vordergrund zu stellen, die politischen Gegner wurden nicht mehr attackiert.

Der Tabubruch geschah Ende 1993 mit dem Messerstecher-Inserat. In den Schweizer Redaktionsstuben rauchten die Köpfe: Greifen wir dieses Thema journalistisch auf oder ignorieren wir es? Die Diskussionen waren intensiv, ich erlebte ein paar davon. Damals gab es weder Online-Portale noch Social Media, die etablierten Medien waren sich ihrer Verantwortung bewusst und agierten als Gatekeeper. Das Messerstecher-Sujet schaffte es trotzdem, zu einem grossen Thema zu werden.

Seither wurde eine ganze Reihe weiterer Sujets lanciert, etwa die dunklen Hände, die nach dem Schweizer Pass greifen, das Schäfchen-Plakat oder die Minarette, die aussehen wir Pershing-Raketen.

Solche Provokationen erzeugen Langzeiteffekte: Der Absender beeinflusst die Medienagenda, erhält viel Aufmerksamkeit, kann sich erklären und so seine Botschaften platzieren. Der Aufstieg der SVP seit 1991 von einer bäuerlich geprägten Partei mit 11 Prozent Wähleranteil zu einer modernen, top-down geführten Wählerorganisation mit 29 Prozent hat auch mit Aufmerksamkeitsökonomie zu tun. Keine andere Partei hat so früh und so konsequent die Medienlogik verinnerlicht.



Mark Balsiger ist Politikberater und seit 2002 Inhaber einer Kommunikationsagentur. Er publizierte drei Bücher über politische Kommunikation und notiert auf wahlkampfblog.ch seine Beobachtungen über Politik, Medien und Kommunikation.

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KOMMENTARE

Mark Balsiger
27.08.2019 09:21 Uhr
Weil ich als Autor dieses Textes in einem Kommentar direkt angesprochen wurde, will ich diesen Punkt klären. @Victor Brunner - In meinem Text steht, dass man nicht schweigen dürfe, will heissen: Selbstverständlich soll die Gesellschaft über diese Aktion diskutieren. Hingegen finde ich es falsch, wenn das Sujet reflexartig verbreitet wird, weil es eine enorme Suggestivkraft hat. Lesen hülfe.
Ueli Custer
23.08.2019 14:15 Uhr
Der Schuss geht offensichtlich nach hinten los. Eine – allerdings nicht repräsentative – Umfrage auf der Website der Weltwoche zeigt, dass dort rund 84% der Teilnehmenden das Sujet daneben finden.
Victor Brunner
21.08.2019 14:20 Uhr
Balsiger meint die Zivilgesellschaft soll wegschauen und jeden Schrott der SVP akzeptieren! Diskussion ist wichtiger Bestandteil der Gesellschaft und wenn die Partei mit Nazisymbolen mehr als die Hälfte der BürgerInnen verhöhnt muss darüber geredet werden. Dass es immer noch genügend SVP Anhänger gibt die nichts verstehen und kapieren ist bedenklich, aber nicht Grund zu schweigen. Die Mehrheit der Deutschen hat in den 30iger Jahren gejubelt als sie die Sujet sahen und sich in den Abgrund manöveriert! Faschismus fängt im Alltag an!
Hans Schneeberger
20.08.2019 20:10 Uhr
Geben wir uns nicht päpstlicher als der Papst. Selbstverständlich müssen die SVP-Plakate ein Thema sein. Medien machen Themen und ja, manchmal nützt das auch einer politischen Partei. Aber solange SVP-Exponenten wie Andreas Glarner begeistert auf die neue Kampagne reagieren („Endlich findet die Partei zu ihrer kämpferischen Linie zurück“) sind die Medien verpflichtet, solche Themen aufzugreifen.
Jost Wirz
20.08.2019 15:31 Uhr
Hier wird leider wieder einmal Aufmerksamkeit mit positiver Wirkung gleichgesetzt. Es gilt eben nicht: je bekannter, desto beliebter! Auch das Umgekehrte ist möglich.
daniel riesen
20.08.2019 12:14 Uhr
Mark Balsiger schreibt zurecht von "wir" und meint sich selber mit. Ich bin erst durch seine Tweets überhaupt aufs Thema gekommen. Gut gestellte Fallen sind eben so gut wie unvermeindlich. Aber manche fallen ja auch in die Grube, die sie anderen graben. Bin mir beispielsweise nicht so sicher, dass mit dem Apfelsujet die "Parteimitglieder bei Laune" gehalten werden. Und manchen der noch wichtigeren, weil zahlreicheren Wechselwählern gehen angesichts des schlechten Geschmacks dann doch eventuell die Augen auf. Ganz bei Mark Balsiger bin beim weiteren Medienkreislauf: den Parteioberen auch noch das Mikrophon hinhalten, damit sie sich erklären können, ist nun wirklich blauäugig. Das Inserat ist das Statement, das reicht.
Hans-Ulrich Büschi
20.08.2019 10:18 Uhr
Mark Balsiger bringt es auf den Punkt! Mehr ist nicht zu sagen.
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