12.06.2017

Ringier

«Virtual Reality ist wie Boulevard»

Die Blick-Gruppe setzt seit letztem Herbst auf virtuelle Realität. Videoleiter Sebastian Pfotenhauer zieht eine positive Bilanz. Im Interview mit persoenlich.com erklärt er, was es für den Erfolg von 360-Grad-Videos braucht und wie der «Blick» noch stärker wahrgenommen werden könnte.
Ringier: «Virtual Reality ist wie Boulevard»
«Man sieht das, was sonst nur Journalisten sehen», sagt Sebastian Pfotenhauer (im Bild mit VR-Brille), Head of Video bei Ringier. (Bild: Ringier)
von Tim Frei

Herr Pfotenhauer, Sie bezeichnen Virtual Reality (VR) als «Game Changer» (persoenlich.com berichtete). Ist VR nicht einfach ein Hype?
Nein, VR ist mehr als ein Hype. Die virtuelle Realität wird unseren Bewegtbildkonsum verändern und ist aus mehreren Gründen ein «Game Changer»: Erstens wird sie ein fester Teil unserer Kommunikation werden. Zweitens wird sie Geschichten und den Journalismus erlebbarer, emotionaler und damit attraktiver machen. Die Technologie wird sich drittens rasant verändern, der Umgang mit VR in Zukunft einfacher und preiswerter werden.

Und sonst?
VR-Brillen verkauften sich im ersten Jahr gleich gut wie das iPhone nach der Markteinführung, das bekanntlich ein bedeutender «Game Changer» war. Durchsetzen wird sich am Ende wohl eine Mischung aus Virtual Reality und Augmented Reality: Die sogenannte «Mixed Reality» als Kombination einer dreidimensionalen Darstellung der Wirklichkeit mit computergeneriertem Content.

Können Sie ein Beispiel nennen, inwiefern VR Teil unserer Kommunikation wird?
Zukünftig können wir beispielsweise Meetings virtuell führen, die Teilnehmer sitzen dann per Hologramm oder Avatar an einem Tisch. Facebook hat bereits gezeigt, wie das aussehen kann. Je mehr das im Alltag der Menschen ankommt, desto selbstverständlicher wird VR genutzt werden.

Die «Blick»-Gruppe hat im vergangenen Herbst eine VR-App lanciert (persoenlich.com berichtete). Wie lautet die Bilanz?
Durchwegs positiv. Das zeigt sich unter anderem am guten Feedback unserer User: Wir haben, seit wir auf dieses Thema setzen, mit rund 30 Millionen Aufrufen bei 360-Grad-Videos eine beeindruckende Reichweite erzielt. Und auch die Statistik spricht für unsere VR-Videos: Einerseits ist die Verweildauer praktisch identisch mit der Länge solcher Videos, das heisst, die Nutzer schauen bis zum Schluss. Andererseits ist auch das Feedback durch Likes, Shares und Kommentare äusserst zufriedenstellend. Mit der Lancierung der VR-App konnten wir ausserdem zeigen, dass Ringier innovativ ist und Mut für neue Ideen hat. Diesen Weg müssen wir weiterhin gehen. Nur so können wir die digitale Transformation erfolgreich weiterführen.

Auf welchem Gerät ist die Verweildauer für 360-Grad-Videos am längsten?
Interessanterweise ist sie – wenn wir die Blick-VR-App mal ausklammern – auf dem Desktop zumeist höher als beim mobilen Angebot. Das hat uns überrascht, denn am Computer kann man sich das Video ja weder mit einem Cardboard noch mit einer VR-Brille anschauen (Anm. d. Red. : Für Smartphones gibt es für ein paar Franken sogenannte Cardboards, einfache 3-D-Viewer aus Karton, die ein Erlebnis bieten, das mit jenem einer 3-D-Brille vergleichbar ist).

Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Dem User bietet sich bei diesen Videos erstmals die Möglichkeit, wirklich in Geschichten einzutauchen: Man ist durch die 360-Grad-Perspektive tatsächlich vor Ort, kann sich selbst ein eigenes Bild machen und sieht das, was sonst nur Journalisten sehen. Dies erlaubt eine intensive und emotionale Auseinandersetzung mit dem Inhalt. Das bietet schon so viel Mehrwert, dass die User lange zuschauen. Erfolg hat man damit aber nur, wenn «Experience» mit «Storytelling» kombiniert wird.

Das heisst?
Das Erlebnis muss in eine spannende Geschichte verpackt werden. Früher reichte es, den User an einen Ort oder in eine Situation zu bringen, die er nicht kannte. Das zeigt zum Beispiel unser Video aus dem Cockpit eines Kampfjets (vgl. Video unten), das über zehn Millionen Mal angeschaut wurde. Heute muss man diese Erfahrung mit einer Geschichte verbinden.

Wie sieht das konkret aus?
Das heisst, wir sind nicht nur in einem Kampfjet, sondern lassen uns auch vom Piloten erklären, wie er seine Maschine steuert. Deshalb haben wir zum Beispiel auch das erwähnte Video neu produziert. Generell ist das Führen oder «An-die-Hand-Nehmen» des Users zentral im Bereich von 360-Grad-Videos, weil es einfach so viel zu entdecken gibt, was einen schon mal überfordern kann. Beachtet man dies nicht, wird man den User sehr schnell verlieren.

Über Erfolg und Misserfolg entscheidet schliesslich auch hier der Inhalt.
Genau. Am Ende ist eine gute Geschichte eine gute Geschichte. Man muss dem Betrachter ausserdem klarmachen, weshalb er sich die nächsten Minuten mit diesem Video beschäftigen sollte – wo also der Mehrwert liegt.

Weshalb haben Sie sich beim Thema VR für eine Multi-Plattform-Strategie entschieden?
Momentan nutzen nur wenige Menschen eine VR-Brille. Deshalb macht es keinen Sinn, Inhalte zu produzieren, die man nur mit der Brille konsumieren kann. Letztlich müssen wir damit auch Reichweiten erzielen können, die für die Anzeigenkunden interessant sind. Die VR-App ist so etwas wie das i-Tüpfelchen: In der App werden 50 Prozent der Videos mit einer Brille angeschaut. Zentral ist jedoch, dass wir die Videos auf allen Kanälen spielen – auf den Seiten und in den Apps der Blick-Gruppe, auf Youtube, Facebook und neu auch auf Vimeo.

Inwiefern passt VR zum Boulevard?
Virtual Reality ist wie Boulevard. Weil es erstens einen äusserst emotionalen Zugang erlaubt. Und VR-Inhalte zweitens die Verständlichkeit fördern: Indem der User etwas durch die 360-Grad-Perspektive erlebt, versteht er womöglich Ereignisse oder Entwicklungen besser. Genau dieses Anschaulich- und Erlebbarmachen, mehr noch das Herunterbrechen von zum Teil komplexen Sachverhalten, so, dass es jeder versteht, das ist die hohe Kunst des Boulevards.

Wie haben die anderen Abteilungen des «Blick»-Newsroom auf VR reagiert?
Sehr positiv und vor allem neugierig. Seit meinem Antritt im April 2015 habe ich den Newsroom als sehr offen für Neuerungen erlebt – insbesondere für Entwicklungen im digitalen Journalismus. So haben es viele Journalisten geschätzt, wie ihre Beiträge auf sozialen Medien neue Lesergruppen erschliessen und ihnen einen direkten Austausch mit den Usern ermöglichen. Klar, neue Dinge können immer Ängste hervorrufen. Das haben wir aber immer ernst genommen und deshalb viel in Weiterbildungen und Schulungen investiert.

Zum Beispiel?
Wir zeigten, wie man mit dem Smartphone oder einer 360-Grad-Kamera Videos aufnimmt oder auch vor der Kamera agiert. Generell wollen wir unsere Mitarbeiter stärker motivieren, auch vor die Kamera zu treten. So werden sie wirklich wahrgenommen und können zur Marke werden. Die Reaktionen auf Videos sind in der Regel viel stärker als auf geschriebene Artikel.

«Blick»-Journalisten sollten sich also zu einer Marke entwickeln?
Wenn sich zumindest einzelne Journalisten zu einer Marke entwickeln würden, wäre dies auch sehr positiv für den «Blick». Denn am Ende vertrauen Nutzer einem Menschen mehr als einem einzelnen Brand. Im Idealfall hätten wir so ganz viele Einzelmarken. Dies würde uns helfen, noch stärker wahrgenommen zu werden und weiter erfolgreich zu sein.

Wie funktioniert die Finanzierung von VR-Inhalten?
Mit Native Advertising. Durch die intensive, lange und emotionale Auseinandersetzung mit dem Inhalt eignen sich VR-Videos ideal für diese Werbeform. Von unseren Anzeigekunden erhalten wir jedenfalls ein äusserst positives Feedback.

Unabhängige journalistische VR-Inhalte werden also mit Native Advertising querfinanziert?
Native Advertising ist eine von vielen Möglichkeiten, in digitalen Medien Erlöse zu generieren. Darüber hinaus ist diese Form bei unseren Usern sehr beliebt, weil dabei nicht nur gute Geschichten erzählt werden, sondern auch ein Mehrwert für den User entsteht.

Zwischen solchen Inhalten und redaktionellen VR-Videos besteht aber eine Trennung?
Genau. Die Native-Advertising-Videos sind klar als solche gekennzeichnet und werden von unserem Brand Studio entwickelt, das nicht der Chefredaktion der Blick-Gruppe unterstellt ist und somit unabhängig agiert.

Welche VR-Projekte kann der User in der nahen Zukunft erwarten?
Zum Beispiel Konzerte oder Sportübertragungen, die man von zuhause so miterleben kann, als wäre man im Stadion – und zwar live. Das SRF bot dies beim Schweizer Cupfinal bereits Ende Mai an. Auch wir beim «Blick» haben erste Tests durchgeführt und werden künftig unseren Usern Live-Events mit 360-Grad-Videos anbieten.

Diesbezüglich könnten die Rechte aber zu einer Hürde werden.
Ja, die Rechte sind ein Knackpunkt. Ich gehe aber davon aus, dass zum Beispiel die Fifa dieses Thema bereits 2018 bei der Fussball-WM in Russland für sich besetzen wird. Dass man computeranimiert einem Spiel beiwohnen kann, wird es in Zukunft auch geben. Man wird dann neben Ronaldo stehen, wenn er live zum Freistoss ansetzt. Fussballvereine wie die Glasgow Rangers und Red Bull New York sind bereits dabei, solche Erlebnisse umzusetzen. In der Formula E kann man schon jetzt in Echtzeit in den Cockpits aller Piloten mitfahren.

Gibt es für Sie ein Vorbild für den Einsatz von Virtual Reality im Journalismus?
Die «New York Times» ist sicherlich für alle, die auf Journalismus und VR setzen, ein Vorbild. Sie haben diesen Bereich bisher sehr erfolgreich gestaltet – inhaltlich und wirtschaftlich. Ihre VR-App ist mit über 900‘000 Downloads die erfolgreichste App in der Geschichte der «New York Times».



Kommentar wird gesendet...

Kommentare

  • Mediabeobachter, 12.06.2017 09:48 Uhr
    Zuckerberg sieht die Zukunft der VR nicht so rosig wie Ringier. Facebook hat ihr Oculus VR Studio wieder geschlossen. Anscheinend "zu kompliziert und damit zu aufwändig und zu teuer - Nutzung skaliert nicht wegen hohen Kosten der Brillen und leistungsstarken Smartphones". Mal sehen wer Recht behält. Für Kritiker ist es schwer vorstellbar, dass Menschen z.B. unterwegs im ÖV mit VR Brillen Medien konsumieren. Ist auch zu Hause eher was für Gamer und Singles. Wer frei in der Gegend rumkuckt, verpasst das Wichtigste. Aber das werden sie beim Selbsttest dann schon noch selber feststellen. Zurückspulen ein Grund für lange Nutzungsdauer - aber auch Frustpotential. One Hit Wonder oder neuer Medienstar?
Kommentarfunktion wurde geschlossen

Diese Artikel könnten Sie auch interessieren:

Zum Seitenanfang20240426