03.01.2017

Ludwig Hasler

«Ich glaube, wir sind etwas überfordert durch die Moderne»

Der 71-Jährige ist der letzte Philosoph der Schweiz. In seinen Referaten und Artikeln setzt er sich mit den Abgründen des menschlichen Lebens und der Gesellschaft auseinander. Seit 20 Jahren schreibt er zudem für «persönlich». Ein Grund, sich mit ihm über die aktuelle Weltlage zu unterhalten.
Ludwig Hasler: «Ich glaube, wir sind etwas überfordert durch die Moderne»
«Wir sind Glückspilze. Nie ging es Menschen auch nur halb so gut wie uns heute hier», sagt Ludwig Hasler. (Bilder: Marc Wetli)
von Matthias Ackeret

Herr Hasler, Sie sind seit zwanzig Jahren Kolumnist bei «persönlich» und haben in dieser Zeit rund 330 Kolumnen verfasst. Wurde die Welt in dieser Zeit komplizierter?
Ja, sie wurde komplizierter, auch schneller. Der Wandel gibt grad Gas.

Woran liegt das?
An der Digitalisierung, also der vierten Zündstufe der Industrialisierung. Das Projekt lautet: Die Maschine wird erwachsen. Im Kern dann zwei Fragen. Erstens: Wie sieht eine Welt aus, die von der Maschine übernommen wird? Zweitens: Welche Rolle bleibt dabei dem Menschen? Sind wir Piloten des Wandels – oder nur Passagiere? Akteure – oder Hanswurste von Algorithmen, die im Silicon Valley bewirtschaftet werden? Dieser Wandel erfasst nicht nur Produktion und Handel, er geht an die Knochen des humanen Selbstverständnisses. Dies zeigt sich bei der Trump-Wahl und ähnlichen politischen Erschütterungen.

Inwieweit hat dies mit der Digitalisierung
 zu tun?
Ich glaube, wir sind momentan etwas überfordert durch die Moderne. Die klassischen Werte offener Gesellschaften – Vernunft, To
leranz und so weiter – funktionieren, solan
ge sie sich für den Einzelnen rechnen. Immer
 mehr Leute sagen sich heute: Okay, wir sol
len vernünftig sein und tolerant – aber was
haben wir eigentlich davon? Die da oben,
 die Eliten, die profitieren davon, klar, die Migranten sowieso. Aber wir? Und jetzt nimmt man uns noch die Jobs weg, weil Roboter billiger sind – und die viel gerühmte Globalisierung die Chinesen bevorzugt. Ein heikles Stimmungsgemisch. Unsere Ge- sellschaft lebt von den Verheissungen. Bis vor Kurzem entschädigte die Aussicht auf ewige Himmelsfreuden für irdische Miseren. Jetzt, wo das Jenseits vakant ist, brauchen wir die Satisfaktion hier – im Wachstum. Mehr Lohn, mehr Freiheit, mehr Komfort, mehr Spass: Davon lebt die Moderne. Stockt dieses Wachstum, bricht die Motivation weg. Die Wut richtet sich gegen Eliten, die mit ih
ren Versprechen «gelogen» haben. Dann wollen die Enttäuschten einen ihresgleichen an der Macht. Ob der, wie Trump, Milliardär ist, spielt keine Rolle.

Können Sie diese Entwicklung nachvollziehen?
Problemlos. Donald Trump ist ja kein Idiot – ohne praktische Intelligenz könnte er nicht machen, was er macht. Mit seiner Rüpelhaftigkeit setzt er sich ab von der Mentalität der Harvard-Abgänger. Wahrscheinlich kapierte er instinktiv: In kritischen Zeiten weckt kultivierte Rationalität mehr Argwohn als Vertrauen. Es ist ja diese Rationalität, die in die Krise führte. Die «Abgehängten» sehen in der offiziellen Vernunft ein Instrument der Herrschaft – und berauschen sich an einer Irrationalität, die simple Lösungen verspricht. Weil das Differenzierte suspekt wird, gewinnt das Simple. Schlauheit schlägt Bildung.

Können Sie ein bisschen konkreter werden?
Beispiel Bankendebakel 2008. Hat wer angerichtet? Die Masters of the Universe, piekfein gebildete Harvard-Absolventen. Die produzierten bemerkenswert lachhafte Torheiten, verpackten die Schulden armer Schlucker stets neu, verkauften sie jedes Mal teurer, in der Wahnsinnsannahme, Geld vervielfache sich jenseits der «Realwirtschaft» ewig weiter. Wer nur eine Spur Menschenverstand hat, konnte wissen: Das geht nicht auf. Wie erfolgreich Donald Trump als Geschäftsmann tatsächlich war, ist umstritten. Dass er aus dem Bauch heraus entscheide, sagt er selber. Man darf das glauben, ohne es toll finden zu müssen. Dieses «Bauchgefühl» schien vielen vertrauenswürdiger als eine scheinbar überlegene Rationalität, die nicht mehr einlöst, was sie verspricht.

Das betrifft jetzt vor allem die USA. Wie sieht es bei uns aus?
Wir sind Glückspilze. Nie ging es Menschen auch nur halb so gut wie uns heute hier. Wir haben nur ein Problem: Wie schaffen wir – nach so viel Erfolg – auch noch eine erfolg- reiche Zukunft? Es geht uns so fabelhaft, dass wir alles wollen, bloss keine Veränderung. Wir wollen das prima Leben, das wir haben, behalten, wir wollen kein anderes – basta. Im Klartext: Wir wollen gar keine Zukunft, eher eine Fristerstreckung für die Gegenwart. Wir wollen den Status quo konservieren. Dumm nur, dass bei jedem Status quo absehbar der Lack blättert. Trifft zu, was Olympiasiegerin Nicola Spirig sagt? Dass man mit der heutigen Schweizer Mentalität – zu satt, zu bequem, zu ehrgeizlos – nicht mehr an die Spitze kommt? Eine Frage der Mentalität. Hinzu kommt die Konkurrenz von aussen: Weniger satte Gesellschaften – siehe Osteuropa – sind ziemlich scharf auf Zukunft, sie wollen Veränderungen. Sodass auch für uns Glückspilze die evolutionäre Logik wieder gilt: Entweder werden wir besser, oder andere werden besser als wir. Ist
 nicht gemütlich, aber wir müssen entschei
den: Wohlstand oder Gemütlichkeit? Ich
 musste lachen, als der frühere Stadtpräsi
dent von Zürich, Elmar Ledergerber, die jetzige Regierung – also seine Parteikollegen –
 kritisierte. Im Interview sagte er, mehr Velostreifen und Sozialwohnungen seien prima, nur lebe eine Stadt halt nicht davon. Wir haben vergessen, dass es Performance und Veränderung braucht, um unsere Erfolgsstory in die Zukunft zu verlängern. Wir wollen Feuer ohne Rauch, wir wollen einen 
Flughafen ohne Lärm, wir wollen Technik ohne Dreck. In Zollikon wohnen zwölftausend Menschen, ständig am Mobile, aber eine Antenne darf es nicht geben. Zu riskant!

Aber was hat dies mit der Digitalisierung zu tun? Kann es nicht sein, dass diese beiden Entwicklungen – Wohlstandserhaltung und Abneigung gegen die Harvard-Mentalität – zufällig parallel verlaufen?

Ja, warum nicht? Vielleicht bin ich – als Analog-Freak – fixiert aufs Digitale. Nicht nur, weil ich am Morgen in der S-Bahn schon all die gebeugten Online-Knechte sehe. Ich weiss auch: Unser modernes Leben ist nur digital steuerbar. Weil es auf allen Ebenen – Mobilität, Konsum, Partnersuche – so komplex geworden ist, kommen wir mit unserem Menschenhirn nicht mehr nach mit Rechnen. Wir müssen den Computer rechnen lassen – nach unseren Programmideen. Informatik, super. Steigt als Haushaltshilfe ein – und schwingt sich leicht auf zum Hausdrachen. Das beginnt erst. Manche fühlen sich bedroht.

Zu Recht?
Sicher. Die digitale Revolution hat völlig neue Unternehmertypen hervorgebracht, denken wir nur an Airbnb. Diese Erfindung stammt nicht von klassischen Unternehmern, sondern von Studenten, die sich bei einer Tagung kein Hotel leisten konnten. Ihre Frage war logisch: Braucht es eigentlich Hotels? Nein, braucht es nicht, es gibt genügend leere Betten. Die kann man digital organisieren. Dito Mitfahrmöglichkeiten. Braucht es Taxis? Nein, eigentlich nicht, es gibt genügend freie Plätze und Autos. So entstand Uber. Hinter diesen Unternehmen stecken keine eigentlichen Firmen, die Hotels oder Taxis besitzen, sondern Platt- formen, die Verbraucher und Anbieter zusammenbringen. Für viele traditionelle Unternehmen wird dies zur tödlichen Bedrohung.

Was bedeutet das für unsere Arbeitswelt?
Eine Oxford-Studie sagt: 47 Prozent der herkömmlichen Tätigkeiten werden in den nächsten zwanzig Jahren hinfällig. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um vermeintlich wichtigere oder unwichtigere Jobs handelt. Eine Coiffeuse werden wir mit grosser Wahrscheinlichkeit immer wollen. Beim Buchhalter habe ich meine Zweifel. Sogar beim Arzt. Digitale Diagnosegeräte sind super, Operationsroboter auch. Sie arbeiten zuverlässiger als die menschliche Hand, jedenfalls in standardisierten Situationen. Die Grundfrage lautet in jeder Branche: Können wir etwas, was der smarte Roboter noch in fünfzehn Jahren vermutlich nicht kann?

Es scheint, dass die Nachfrage nach 
Philosophen gestiegen ist.
Ist sie. Wie stets, wenn die Zeiten turbulent
 werden. Da sind wir schnell am Ende mit un-
seren Gewissheiten. Als Philosoph kann ich sagen: Ach so, Leute, ihr wollt glücklich
 sein? Aber was genau meint ihr mit Glück? À la Schopenhauer: «Es gibt kein Glück – ausser im Gebrauch der eigenen Kräfte»? Aber taugt der Mensch zum Glücklichsein? Oder konzentriert er sich besser auf Freiheit? Gibt es die überhaupt? Hirnforscher winken ab. Und so weiter, über das nachdenken, was sonst selbstverständlich ist: Wie läuft das mit uns Menschen? Wird ganz praktisch bedeutsam – für Ärztinnen, für Shoppingcenter-Chefs, für Regierungsräte, für Architektinnen, für Informatiker. Vor diesen und anderen Gruppen rede ich regelmässig über solche Grundsatzfragen – mit direktem Bezug zu ärztlicher Kunst, zu Verführung beim Shopping, zu Führung. Die Frage, wie Menschen ticken, ist mein Spezialgebiet – und meine Haupteinnahmequelle (lacht). Der Mensch, ein ziemlich vertracktes Wesen.

Was bedeutet das?
Dass wir Menschen nur als zwiespältigen Wesen gerecht werden. Um uns herum ist al- les eindeutig: Eine Katze ist eine Katze, ein Hund ist ein Hund. Der Esel ist komplett Esel, der Engel komplett Engel. Einzig der Mensch – halb Esel, halb Engel – hängt irgendwo zwischen dem Geistigen von oben und dem Animalischen von unten. Er ist der leibhaftige Zwischenfall. Das muss verstehen, wer ihn schulen, beschäftigen, gewinnen will.

Aber wie äussert sich dies?
Menschen können einfach drauflosleben. Wir müssen unser Leben führen. Das schaffen wir erst dann so richtig, wenn wir Kräfte aus uns herausholen, die wir selber noch kaum kennen. Bei Ödön von Horváth steht: «Eigentlich bin ich ganz anders, ich komme nur so selten dazu.» Bitte häufiger dazu kommen! Darin sehe ich das Pensum eines Menschenlebens: realisieren, was ich «eigentlich» sein kann oder könnte. Ist selten der bequemste Weg. Da liegen meist allerlei Hindernisse herum, Widerstände, Risiken. Die mögen wir momentan gar nicht. Wir haben es gern reibungslos. Nicht nur Fristerstreckung für die Gegenwart, wie gesagt, sondern Fristerstreckung für eine problembereinigte Gegenwart. Unentwegt bügeln wir die letzten Ungereimtheiten aus, kitten Widersprüche. Damit ja nichts passieren kann, karren wir auch die Kinder in die Schule – und rauben ihnen das erste herrschaftsfreie Terrain zwischen Elternhaus. Wir nehmen ihnen die Chance, selbstständig zu sondieren, sozial zu experimentieren. So können Kinder gar nicht anfangen, ihr Leben zu führen, sie werden geführt.

Diese «Fristerstreckung für die Gegenwart», wie Sie es genannt haben, widerspiegelt ein konservatives Weltbild...
Wer so gut lebt, will sein gutes Leben bewahren. Absolut logisch. Und riskant. Carl Friedrich von Weizsäcker verglich unsere Gesellschaft mit einem Velofahrer: Steht er still, fällt er hin. Also in Fahrt bleiben, vorwärts, innovativ. Wer stillsteht, hat verloren, egal, auf welchem Level er ausruht. Das ist theoretisch schnell kapiert. Praktisch stellt sich dann doch schnell ein verklärter Retroblick ein. Man delektiert sich an Bildern einer heilen Welt, die es nie gab. Siehe Schweizer Fernsehen: Berge, Bergler, Hüttenwarte, Alpöhi ... Nett zu sehen, nur: Die erfolgreiche Schweiz lebt seit 1880 von der Industrie, nicht vom Berglertum, eher von der technischen Auflehnung gegen die Armseligkeit des Berglerwesens. Wir waren bei den ersten Phasen der Industrialisierung stets ganz vorn. Und jetzt, bei der Digitalisierung? Wir können noch immer ganz vorn sein – wenn wir nicht zu bequem sind. Ich fürchte, wir sind zu bequem. Lehrplan 21 zum Beispiel führt Informatik nur als Ausbildung von Nutzerkompetenzen. Digitale Produkte bedienen statt programmieren. Bedienen, was andere erfinden, ist eine knechtische Kompetenz. Freiheit im 21. Jahrhundert wird technologisch: Programme, die unser Leben lenken, selber steuern. Das wäre Freiheit. Dazu müsste Informatik in die Grundschule. In der Schweiz aber ist Schule noch immer ein Institut für Sprachen. Obwohl die Weltsprache des 21. Jahrhunderts nicht Englisch ist und nicht Chinesisch, sondern Informatik.

Sind wir wirklich so bequem?
Sehen Sie mal auf die neue Fünfzigernote. Als ich diese erstmals in der Hand hielt, jetzt ist die Nationalbank bekifft. Sie sagt, auf der neuen Serie sollen exemplarische Handlungen der Schweizer im 21. Jahrhundert abgebildet werden. Und was steht jetzt da? Auf der einen Seite ein Gleitschirmflieger über den Alpen; Ideal einer reibungslosen Existenz, so nach dem Motto «Wir sind über dem Berg». Auf der Rückseite: Pusteblume. Die Schweiz, ein Erlebnispark? Kein Treibhaus für die Zukunft? Ich sehe die Schweiz als Laboratorium. Wir leben vom Düsentrieb-Spirit.

Sie sind in der Begleitgruppe Digitalisierung der Economiesuisse. Was bezwecken Sie dort?
Mitdenken, ganz einfach. Und siehe da, die Chefs von Siemens, IBM und Empa, die alle in der Gruppe dabei sind, denken auch gern nach – über Digitalisierung und Gesellschaft und Regulierung ...

Können Sie diesen Wirtschafts-Cracks etwas bringen?
Bei fast allem, was ich treibe, bleibt dies unklar (lacht). Der Vergeblichkeitsargwohn ist mir nicht fremd. Aber zum einen: Ich dränge mich ja nie auf, ich werde eingeladen zum Reden, stets häufiger, ich kann längst nicht allen Anfragen folgen. Zum anderen: Ich mache nicht auf Beratung, ich weiss nicht besser, was ein CEO tun sollte. Ich weiss überhaupt nichts besser, ich kann nur denken, darin bin ich geübt. Ich denke nach über Technologie und Gesellschaft und Freiheit und Medizin und Maschine und was auch immer. Und dabei stets: Wie tickt ein Mensch? Ganz ohne pädagogische Absicht notabene. Viele sagen danach, wenn sie mir zuhörten, schalte ihr eigenes Denkzentrum schnell auf aktiv. Das gefällt mir. Sokrates sagte, Philosophieren sei mentale Hebammenkunst. Denken kann man nicht in andere hineinstopfen. Denken kann man nur herauslocken.



Was sagt Ludwig Hasler sonst noch zu den Herausforderungen der Zukunft und der humboldtschen Bildung? Lesen Sie das vollständige Interview. Sie finden es in der aktuellen Print-Ausgabe vom «persönlich»-Magazin.



ZUR PERSON

Ludwig Hasler, der Philisoph und Publizist, studierte Physik und Philosophie, führt seither ein journalistisch-akademisches Doppelleben. Als Philosoph lehrte er an den Universitäten Bern und Zürich. Als Journalist war er Mitglied der Chefredaktion beim «St. Galler Tagblatt», danach bei der Zürcher «Weltwoche».



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