30.09.2008

VON SENGER HARRO, Sinologe/Juli 2008

Denkhorizonte: Kann man den Chinesen wirklich trauen? Diese Frage war während der Olympischen Spiele ein mediales Dauerthema. Trotzdem setzen viele westliche Unternehmer Hoffnung in ?den chinesischen Markt. Was aber hierzulande nahezu unbekannt ist: Chinesische Führungspersönlichkeiten verfügen über drei geistige Quellen, die sie systematisch nutzen. Gegenüber “persönlich” ?gibt der bekannte Sinologe Harro von Senger einen Einblick in die chinesische Seelenlage.

Herr von Senger, überall ist vom Schlagwort die Rede, wonach sich der Westen vor China fürchten muss. Teilen Sie diese Ansicht?

“Wer für Wettbewerb eintritt, sollte einen Sys-temwettbewerb mit der sino-marxistischen Volksrepublik China nicht fürchten, sondern sich im Gegenteil darüber freuen. Denn dadurch ergeben sich enorme Herausforderungen, dank denen man nicht einschläft, sondern nach besseren Lösungen strebt. Oder glauben etwa westliche Menschen, die sich vor China fürchten, insgeheim nicht so recht an das eigene bürgerlich-liberale Sys-tem? Haben Sie Angst, dass dieses der chinesischen Herausforderung nicht gewachsen sein wird? Fürchtet man sich dann im Westen vielleicht weniger vor China als vor der eigenen Schwäche? Vermutlich etwas zu selbstbewusst äusserte der US-Philosoph Richard Rorty: ‘Der Westen ist grundsätzlich auf dem richtigen Weg. (…) Unser Ziel sollte es sein, den Planeten zu verwestlichen’ (Süddeutsche Zeitung, 20.?11.?2001, S. 15). Rorty versteht unter ‘Westen’ natürlich die USA. Wenn man ‘Westen’ aber in einem geografischen Sinne auffasst und damit alle Länder und Kulturen westlich des Urals meint, dann ist die Volksrepublik China schon ‘verwestlicht’, und dann ist in Bezug auf China Rortys Vision bereits Wirklichkeit. Denn gemäss ihrer Verfassung ist der Marxismus-Leninismus in diesem Land die allein massgebende Ideologie. Marx, Engels und Lenin waren bekanntlich keine Chinesen, sondern stammten aus Deutschland beziehungsweise Russland. Wie unglaublich die Übernahme des deutschen Marxismus durch die Volksrepublik China ist, wird erkennbar, wenn man sich das Umgekehrte vorstellt: In der Schweizer Bundesverfassung würde stehen, der Konfuzianismus sei für die Schweiz die massgebende Doktrin! Oder die EU würde sich im Lissabonner Vertrag auf den Konfuzianismus berufen!”

Gibt es dann keine “Verwestlichung”?

“Die ‘Verwestlichung’ des ganzen Planeten dürfte also etwas komplizierter sein, als sich dies Herr Rorty vorstellt. Rorty malt durch seine Vision einen Konflikt zwischen China, das aus seiner Sicht wohl noch nicht ‘verwestlicht’, sprich ‘amerikanisiert’, ist, und den USA an die Wand. Die ganze Welt, so auch China, soll nach seinem Willen so wie die USA werden. Diese Rechnung dürfte nicht aufgehen. Die VR China im Verein mit der gewaltigen Mehrheit der Staaten der Dritten Welt macht schon heute den USA einen dicken Strich durch die Rechnung. Wenn beispielsweise im UNO-Menschenrechtsrat in Genf Resolutionen über Länder, zum Beispiel Israel, oder über Sachfragen, wie zum Beispiel die Verurteilung der Diffamierung von Religionen, strittig sind und es zu Kampfabstimmungen kommt, dann befindet sich China in über 90 Prozent der Fälle bei der siegreichen Mehrheit. Die wenigen westlichen Staaten, seit ihrer UNO-Mitgliedschaft auch die Schweiz, werden regelmässig in die Minderheit versetzt. Die USA haben es gar nicht erst gewagt, für den Menschenrechtsrat zu kandidieren. Sie hatten Angst, in der UNO-Vollversammlung, welche die Wahl durchführt, durchzufallen. Da die Lage westlicher Staaten im UNO-Menschenrechtsrat dermassen peinlich ist, hört man davon so gut wie nichts in der westlichen Presse. Die-se lenkt den Blick immer nur auf den wirtschaftlichen Wettbewerb mit China. Der geistigen Auseinandersetzung mit diesem Land geht man aus dem Wege. Hier herrscht offenbar keine Furcht vor China, sondern es regieren bereits Resignation und Hoffnungslosigkeit.”

Wodurch unterscheidet sich die chinesische ?Wesensart von der europäischen?

“Chinesen sind grundsätzlich Menschen wie du und ich. Es gibt also sehr viel Gemeinsames und Verbindendes. Als ich mich je zwei Jahre in Taipeh und danach in Beijing aufhielt, hatte ich keineswegs das Gefühl, auf einem fremden Planeten zu leben. Die mich umgebenden Chinesinnen und Chinesen waren zumeist äusserst liebenswürdig, nette Leute, zu denen ich sofort einen Draht hatte. Selbst in der Menschenrechtsfrage überwiegt übrigens das Verbindende. Die meisten Resolutionen im UNO-Menschenrechtsrat in Genf werden einstimmig verabschiedet, also mit der Stimme der VR China und jener der Schweiz und westlicher Staaten. Davon berichtet die westliche Presse freilich nichts. Sie berichtet nur von der angeblichen fundamentalen Verschiedenheit des chinesischen und des westlichen Menschenrechtsstandpunktes. Zweifellos gibt es Verschiedenheiten. Man sollte aber weder einseitig nur das allgemein Menschliche von Chinesen betonen, noch die Verschiedenheiten hervorheben. Ein konkretes Beispiel: Konfuzius propagierte die Liebe der Kinder zu den Eltern. Ich kann darin nichts spezifisch Chinesisches erkennen. Auch die Zehn Gebote sehen so etwas vor. Aber Konfuzius sagte, solange die Eltern leben, solle man nicht in die Ferne reisen. Denn falls den Eltern etwas zustosse, müsse man immer sofort zur Stelle sein. Zudem solle man sich als Kind keinen Gefahren aussetzen, zum Beispiel durch Bergsteigen oder abenteuerliche Unternehmungen. Denn wenn einem etwas zustosse, dann werden die Haut und die Haare und das Körperfleisch verletzt. All dies habe man von den Eltern geschenkt bekommen. Sich in eine Lage zu begeben, in denen diese von den Eltern erhaltenen Gaben gefährdet werden, verstosse gegen das Gebot der Kindesliebe gegenüber den Eltern. Man darf nichts, was einem die Eltern gegeben haben, schädigen. Derartige konkrete Regeln für die Umsetzung der Kindesliebe zu den Eltern dürften spezifisch chinesisch sein. Man sollte also immer auf ein Gemisch von Allgemeinmenschlichem und Chinesischmenschlichem gefasst sein.”



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