10.02.2016

Quellenschutzdebatte

Auch Medien müssen Kritik einstecken können

Vinzenz Wyss antwortet auf Peter Hartmeiers Vorwurf, Medientheoretiker hätten keine Ahnung von der Praxis.
Quellenschutzdebatte: Auch Medien müssen Kritik einstecken können

Von Vinzenz Wyss*

Selbstverständlich muss Journalismus reflektierte Alltagsbeschreibungen von betroffenen Menschen in seine recherchierten Beiträge einweben. Das macht diese authentisch und das ist wohl auch in dem hier kritisierten Blogbeitrag des anonymen Polizisten der Fall. Keiner hat das in Frage gestellt.

Wenn aber - «gerade in der aufgeputschten Atmosphäre der Abstimmungskampagne» -  ein Blog dafür eingesetzt wird, in einer angespannten Situation mit statistischen Zahlen um sich zu werfen, dann müssen wir vom Journalismus mehr erwarten als das blosse Freischalten eines Anonymus – egal ob Polizistin, Pfarrer oder Feuerwehrmann.  Kriminalität lässt sich doch nicht mit dem Pass allein erklären.  Dem «Immermehrismus» des Anonymus müsste ein verantwortungsvoller Journalismus meines Erachtens in einem recherchierten Beitrag einen Hauch von statistischer Einordnung gegenüberstellen. Das narrative Wissen aus der persönlichen Erfahrungswelt muss mit diskursivem Wissen gekoppelt werden. Genau darin liegt eine unverzichtbare Leistung des Journalismus in einer komplexen Welt.

Klar lassen sich die im Blog gemachten Aussagen (Tätergruppen mit «weit über 80 Prozent Migrationshintergrund» holen mit «grossem Tempo» auf oder  «immer öfter»  führten «zahlreiche» Verfahren nicht zu Verurteilungen etc.) nicht mit einem simplen Faktencheck überprüfen. Eine Einordnung etwa durch einen beigezogenen Kriminalstatistiker hätte aber doch das journalistische Prinzip des «autiatur et altera pars» nicht einfach ignoriert und die Aussagen kontextualisiert.

Peter Hartmeier spricht in seiner Replik aber auch die Kluft zwischen Wissenschaft und Praxis an. Ein alt bekanntes Problem, das nicht nur in der Deutschschweiz immer wieder für Irritationen sorgt. Ich kann sein Empfinden nachvollziehen – erst recht mit meinen acht Jahren journalistischer Berufserfahrung. Als ehemaliger Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Kommunikations- und Medienwissenschaft kann ich ein Lied davon singen. Auch Wissenschaftler fühlen sich oft nicht verstanden, wenn sie von Nicht-Wissenschaftlern kritisiert werden.

Es muss jedoch möglich sein, dass auch Nicht-Journalisten Qualitätsansprüche an Medien formulieren. Medienkritik betrifft uns alle. Der blosse Streit um die legitimere Aussage ist nicht konstruktiv. Was für einen Diskurs hätten wir denn, wenn die Politik nur von Politikern, die Wirtschaft nur von Unternehmern oder die Kunst nur von Künstlern kritisiert würde. In meinem Verständnis als Medienwissenschaftler sind sowohl Journalisten als auch Medienwissenschaftler Anwälte einer funktionierenden Öffentlichkeit. Wir sollten trotz systemischer Grenzen und gerade angesichts fundamentaler Herausforderungen im Journalismus Brücken bauen.

*Vinzenz Wyss ist seit 2003 Professor für Journalistik an der ZHAW. Nach seinen ersten journalistischen Gehversuchen bei der Solothurner Zeitung arbeitete er von 1991-1998 als Redaktor und Moderator bei Radio32 in Solorthurn. Mit seiner Firma Media Quality Assessment evaluiert der Medienwissenschaftler regelmässig die Qualitäts-Management-Systeme in Radio- und TV-Redaktionen.

 



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