09.12.2020

Serie zum Coronavirus

«Auf Bullshit folgt Anti-Bullshit»

Folge 145: René Scheu ist NZZ-Feuilletonchef und Philosoph. Er versuche jeden Tag zu verstehen, was gerade abgeht, sagt er. Jetzt hat Scheu ein Buch herausgegeben und muss sich Kritikern stellen.
Serie zum Coronavirus: «Auf Bullshit folgt Anti-Bullshit»
René Scheu, geboren 1974, leitet seit 2016 das Feuilleton der NZZ. Er ist promovierter Philosoph, Italianist und Buchautor. (Bild: NZZ)

Herr Scheu, welchen Einfluss hat Corona auf die Hochkultur und vor allem das Feuilleton?
Nun ja, das kleine fiese Ding bringt eine Menge Stoff zum Nachdenken. Wie gefährlich ist das Virus eigentlich? Was macht das Ding mit dem Staat – oder besser: Was macht der ohnehin schon expansive Staat mit ihm – und mit uns Bürgern? Welche Verzerrungen bestimmen das Handeln der Menschen, wenn diese einer unbekannten Gefahr ausgesetzt sind? Und welche Rolle spielen die Medien in der Aufklärung dieser Gefahr beziehungsweise in der Bewirtschaftung der Angst, die von ihr ausgeht? Da bleibt für denkende Mitmenschen viel zu tun, also: zu begreifen. Wir haben dies im Frühjahr 2020 ausgiebig getan, mit eigenen Denkstücken und mit Beiträgen des streitbaren Giorgio Agamben über Markus Gabriel bis hin zu Regula Stämpfli. Nur leider sind wir Ende 2020 nicht viel weiter – es gilt noch immer: Wir wissen zu wenig, und das macht uns verrückt.

Was sagt denn der promovierte Philosoph: Wie gefährlich ist Sars-Cov-2?
Der Philosoph ist erst mal bescheiden, weil er weiss, was er alles nicht weiss. Und er weiss natürlich auch: Es kommt darauf an, auf welche Studien man sich stützt. Hält man sich an die Untersuchungen von Hendrik Streeck, Professor in Bonn, oder von John Ioannidis, Professor in Stanford, zwei durchaus seriösen Zeitgenossen, so liegt die Sterberate der mit dem Virus Infizierten zwischen 0,25 und 0,36 Prozent. Das ist weniger als manch andere, zuweilen zum Alarmismus neigende Experten behaupten, aber immer noch mehr als im Falle einer heftigen Grippe – und also keinesfalls zu unterschätzen. Aber sollten Streeck und Ioannidis recht haben, so ist Sars-Cov-2 zugleich auch kein Killervirus wie Sars-Cov oder Mers-Cov.

Was folgt daraus?
Wollen Sie aus mir einen Epidemiologen machen? Ich bin bloss ein aufmerksamer Leser der einschlägigen Literatur, und zurzeit tappen wir wohl alle noch im Dunkeln. Aber gut, wie Sie wollen: Es folgt daraus, dass jeder sich gut überlegen sollte, welche Risiken er eingehen will. Hat er Vorerkrankungen, befindet er sich in fortgeschrittenem Alter oder ist sein Immunsystem sonst wie geschwächt, sollte er wohl lieber zu Hause bleiben. Anderseits gibt es absolut keinen nachvollziehbaren Grund, alle Menschen zur Quarantäne zu zwingen, und ja, den Wilhelm Tell in mir schmerzt es zu sehen, wie irrational Menschen agieren, wenn sie um ihre Gesundheit fürchten – wenn sie etwa allein mit einer montierten Maske im Wald spazieren gehen. Existenzangst ist dem ruhigen Denken nicht wirklich förderlich und manchen Medien, die sie mit Wonne bewirtschaften, ebenso wenig.

«Das Denken kommt immer zu spät. Wir stecken mittendrin und werden eines Tages gewusst haben, was damals, also heute, geschah»

Haben Sie bereits eine Antwort darauf gefunden, was in diesem Jahr alles passiert ist?
Nein. Seit Jahr und Tag versuchen wir im Feuilleton der NZZ zu verstehen, was gerade abgeht – und wir ziehen hierfür die klügsten Köpfe bei, die furchtlos plausible Beschreibungs- und Deutungsangebote machen. Die Leser wissen das zu schätzen, sonst würden unsere Zahlen sich nicht so positiv entwickeln. Aber auch hier gilt: Die Lage bleibt unübersichtlich. Wir befinden uns in einer tiefgreifenden Transformation, die alle Lebensbereiche betrifft. Und natürlich haben all die abgelutschten Begriffe, die wir täglich zitieren, damit zu tun: Digitalisierung, Globalisierung, Individualisierung, Urbanisierung. Aber was ist ursächlich, was ist bloss eine Folge? Ich halte es mit Hegel: Die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug – oder weniger bildungsbürgerlich: Das Denken kommt immer zu spät. Wir stecken mittendrin und werden eines Tages gewusst haben, was damals, also heute, geschah. Heute aber können wir nur raten und auf Sicht fliegen.

Sie haben soeben ein Buch mit Ihren besten Interviews veröffentlicht. Ganz profan gefragt: Was zeichnen diese aus?
Sagen Sie es mir!

Nun ja, Sie scheinen ein Mensch ohne Hemmungen irgendwelcher Art zu sein – Sie fragen, wen Sie wollen, und Sie fragen, was Sie wollen.
Ich denke, Sie treffen einen Punkt. Ich bin neugierig bis zur Schmerzgrenze – und nichts nervt mich mehr als irgendwelche angeblichen Sprech- oder Denktabus, die ein paar besonders empfindlich-puritanische Seelen – nennen wir sie die neuen Bünzlis – den Neugierigen dieser Welt aufs Auge drücken wollen. Das Leben ist zu bunt und zu kurz, um solche unfundierten Diktate ernst zu nehmen.

Die Bandbreite der Interviewten erstreckt sich von Literaturnobelpreisträger Peter Handke, über den Philosophiestar Peter Sloterdijk, Musiklegende Peter Maffay bis zur Influencerin Xenia Tchoumi. Was macht diese Gespräche und vor allem Interviewten «buchwürdig»?
Erstens – das müssen Sie den Herausgeber fragen, Hans Ulrich Gumbrecht, Stanford-Professor für Literatur. Denn das Buch ist seine Idee, und in der Einleitung begründet er auf gefühlten 30 epischen Seiten, warum diese Interviews etwas Besonderes sein sollen. Ob seine Diagnose zutrifft, entscheiden am Ende natürlich die Leser. Bisher sind schon fast 1000 Exemplare verkauft – das kann sich für einen solchen Band sehen lassen. Zweitens: Sie pflegen offensichtlich eine bildungsbürgerliche Vorstellung vom Wesen eines Buches – es ist das, was bleibt, im Gegensatz zu den journalistischen Inhalten, die vom Moment für den Moment geschrieben und morgen schon wieder vergessen sind. Ich finde diese Auffassung sehr sympathisch, und ich wünschte mir, es wäre so. Nur leider sind 99 Prozent aller Bücher zehn Jahre nach der Publikation vergessen. Dafür wird manchmal auch ein Zeitungstext zum Long-Read-Stück.

«Aus manchem Gespräch ist eine Bekanntschaft oder gar eine Freundschaft entstanden»

Mit vielen Ihrer Interviewgäste sind Sie persönlich bekannt. Hemmt Sie dies nicht manchmal beim Fragen?
Keineswegs. Ein Gespräch ist, wenn es denn geschehen soll, ein besonderes Setting. Einerseits fokussiere ich nur auf das Besprochene – alles andere tritt in den Hintergrund, ja verschwindet eigentlich. Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, hat dieses Verfahren Epoché genannt, also eine völlige Urteilsenthaltung, fast schon eine Art der Meditation, eine Ausser-Kraft-Setzung der Welt ausserhalb des Gesprächs. Und anderseits kommt man sich gerade dadurch, dass man Epoché übt und sich also aller Vorurteile enthält, menschlich näher, es entsteht eine eigenartige Art der Intimität. Das ist schwer zu erklären, aber das geschieht. Und so ist auch bei manchem Gespräch eine Bekanntschaft oder gar eine Freundschaft entstanden. Insofern sind Gespräch und Freundschaft keine Gegensätze, sondern bedingen sich im Idealfall sogar gegenseitig.

Was war für Sie bislang das perfekte Interview?
Das perfekte? Das ist immer das nächste, das noch nicht geführte, jenes, was noch kommt. Aber ich kann Ihnen sagen, welches ich für das schrägste und zugleich gelungenste halte – jenes mit Peter Handke kurz vor der Verleihung des Nobelpreises für Literatur in Stockholm. Ich wusste von Handkes Leidenschaft für Pilze, und als Langnauer war ich natürlich auch schon in jungen Jahren im Sihlwald auf Pilzsuche unterwegs. Man könnte meinen, wir hätten beide Pilze gegessen, wenn man das Gespräch im Nachhinein liest, aber wir haben uns einfach – wie soll ich sagen – von unserer Pilz-Leidenschaft führen lassen. Handke hat ein paar legendäre Sätze geäussert – und klar, die rühren ans Innerste: «Ich nehme nichts mit und finde dann eher, als wenn ich vorbereitet etwas mitnehme. Wer mit dem Korb unterwegs ist, findet nie was.» Weiter: «Wer nicht aufschaut, findet keine Pilze, fürchte ich.» Zuletzt: «Die Pilzesucher sind ein total verlogenes Gesindel.»

Nun kann man – wie zuletzt auf zackbum.ch – lesen, dass im Feuilleton der NZZ grosse Veränderungen anstehen. Was heisst das konkret?
Die Veränderungen haben wir hinter uns – und für strukturkonservative Medienkritiker sind alle Veränderungen sowieso per definitionem Verschlechterungen. Das ist ein Phänomen, das mich schon immer frappiert hat: Gerade Journalisten, die so ziemlich allen einen Mangel an Innovationsfähigkeit und Veränderungsbereitschaft unterstellen, sind stockkonservativ, wenn es um ihre Branche geht. Um aber auf Ihren Punkt zu kommen: Die NZZ macht sich fit für die Zukunft, das heisst: sie schaut auf die Kunden, die neuen künftigen und die alten bestehenden. Das bedeutet: Sie schaut ständig auf die Kosten – und das wird sich in absehbarer Zeit nicht ändern. Und sie macht Geld frei, um es in neue journalistische Formen und Formate zu investieren – von Podcast über interaktive Grafik bis hin zu Briefings. Das betrifft natürlich auch die guten alten Ressorts, die Federn lassen müssen. Auch im Feuilleton mussten wir deshalb mit Blick auf 2021 das Budget erneut justieren. Das tut weh, klar, aber es ist der richtige Schritt.

«Wer den Mut hat, sich in den Journalismus zu stürzen, wird es nicht bereuen – es lockt das intensive Leben»

Kosteneinsparungen bedeuten in diesen Zeiten Personalabbau. Wen hat es getroffen?
Das Dossier des deutschen Sprechtheaters wandert von Daniele Muscionico neu in die Hände von Ueli Bernays. Daniele, die ja sehr breit aufgestellt ist und fantastische Texte über alle möglichen Lebensthemen aus kultursensibler Sicht schreibt, bleibt uns aber natürlich als Autorin erhalten. Und Ueli Bernays freut sich auf die neue Aufgabe. Zweitens: Das Dossier «Film und Kino», das bisher in den Händen von Lory Roebuck ruhte, haben wir intern nachbesetzt. Für Lory, einen engagierten jungen Kollegen, war die Kündigung ein harter Schlag, das ist mir klar. Aber er wird seinen Weg machen. Urs Bühler, auch er ein höchst origineller Schreiber und bisher im Ressort «Zürich» tätig, wird das Dossier «Film und Kino» ab Januar 2021 neu betreuen. Zudem haben wir alle Verträge mit Honoristen gekündigt, also mit Leuten, die ein Fixum erhalten. Wir bezahlen neu ausschliesslich pro Text und haben hierfür das Honorarbudget erhöht.

Die Theaterschaffenden haben sich in einem Schreiben an Sie gewendet. Gab es da harsche Kritik?
Es ist doch völlig richtig, dass diese Leute wissen wollen, wie es mit der Theaterberichterstattung weitergeht. Das sind im Übrigen initiative, engagierte Kulturschaffende, die oftmals mit nur sehr wenigen Subventionen auskommen – und ein tolles Programm auf die Beine stellen. Natürlich haben sie gerade andere Sorgen als die Zeitungs-Berichterstattung, weil ihnen die Politik mit dem Corona-Bürokratismus das Leben schwer macht. Aber ich nehme ihr Anliegen sehr ernst. Ich habe ihnen geantwortet, dass wir uns einmal im Freien treffen und offen reden. Sehr aufmerksam werde ich ihnen zuhören, und ja, ich bin für manches zu haben. Zugleich werde ich jedoch die Gelegenheit nutzen, um ihnen zu erläutern, in welcher Umgebung heute eine Zeitung fabriziert wird. Wir werden beide voneinander lernen.

Werden Sie denn die klassische Kulturberichterstattung abbauen?
Das Zauberwort heisst «Fokus». Ausserhalb Zürichs und ausserhalb der Eidgenossenschaft werden wir die Kulturinstitutionen noch selektiver verfolgen als heute – das stimmt. Wenn wir was machen – zum Beispiel zum Wiener Burgtheater –, dann aber richtig, nicht in erster Linie für die Theater-Aficionados, die sich sowieso auf nachkritik.de informieren, sondern für alle kulturinteressierten Leser. Das gibt dann womöglich gleich eine ganzseitige Reportage, und man weiss, was auf dem Kulturplatz Wien läuft. Ansonsten aber fokussieren wir auf Zürich und Umgebung. Und da bauen wir aus. Wir werden im Januar zum Beispiel einen neuen Kultur-Newsletter lancieren. Für Zürcher Institutionen ist das eine gute Nachricht.

Was raten Sie jungen Leuten, die vom Journalismus träumen: Sollten sie ihren Traum vielleicht nochmals überdenken?
Nun, überdenken ist immer gut, bevor man entscheidet. Aber allgemein würde ich sagen: Journalismus ist aufregend, mehr als je zuvor. Es gab noch nie so viele Formen, Formate, Experimente. Wer den Mut hat, sich in den Journalismus zu stürzen, wird es nicht bereuen – es lockt das intensive Leben. Zugleich ist es wohl so, dass Journalismus immer weniger eine lebenslange Karriere bedeutet – man macht’s mit Verve und Wonne, und dann macht man vielleicht auch mal wieder etwas anderes. Die gute Nachricht ist: Man erhöht mit dem Journalismus seine persönlichen Job-Optionen, man verkleinert sie nicht.

In einem «persönlich»-Interview haben Sie gesagt: «Obwohl ich von meinem Büro aus einen schönen Blick auf den Zürichsee und das Bellevue habe, schaue ich selten hinaus. Sobald ich im Stollen angelangt bin, wird geackert. Abends falle ich todmüde, doch zufrieden ins Bett.» Stimmt das immer noch?
Absolut. Genauso ist es. Im Journalismus überwindet man die Marxsche Entfremdung jeden Tag aufs Neue: Man sieht, was man gemacht hat – und wenn man einen Text publiziert hat, steht sogar der eigene Name drüber. Das ist ein grossartiges Gefühl – und ja, da spielt eine Portion gesunder Narzissmus mit. Dennoch hat sich etwas verändert. Das Feuilleton ist vom dritten in den vierten Stock gezogen. Von meinem Büro aus sehe ich nicht mehr den See, sondern die Dachkonstruktion. Doch macht dies keinen Unterschied – denn wir ackern friedlich und fröhlich wie eh und je.

Was war für Sie das prägendste Erlebnis der letzten Wochen?

Das Treffen mit dem Philosophen Markus Gabriel in Zürich. Wir haben uns zum Gespräch getroffen. Der junge Mann, eine Art philosophisches Wunderkind, ist so klug und so präzise, und er denkt so schnell, dass mir warm ums Herz wurde. Gabriel hat in den letzten zehn Jahren einen neuen Realismus begründet, der wohltut. Jüngst war so viel Bullshit über konstruierte Wirklichkeiten und alternative Fakten zu lesen – nun kommt einer und räumt auf. Das stimmt positiv: Geschichte verläuft dialektisch, auf Bullshit folgt irgendwann Anti-Bullshit. Die Welt wird zuletzt immer ein klein wenig besser. Das Leben ist grossartig.

 

 

 

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«Gespräch und Gegenwart. Reden über (und gegen den) Zeitgeist», NZZ Libro, 34 Franken (Print)



Was bedeutet die Corona-Pandemie für die verschiedenen Akteure der Schweizer Medien- und Kommunikationsbranche? Bis auf Weiteres wird persoenlich.com regelmässig eine betroffene Person zu Wort kommen lassen. Die ganze Serie finden Sie hier.


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KOMMENTARE

Robert Weingart
13.12.2020 20:51 Uhr
Bullish...Was für eine Wortwahl. Und das soll ein Feuilleton-Chef sein?
Thomas Läubli
12.12.2020 15:57 Uhr
Hochkultur muss man im Feuilleton von René Scheu mit der Lupe suchen. Die Fachjournalisten wurden weggejagt, damit sich ein rechter Klüngel mit Bullshit und Manager-Lifestyle-Geschwätz selbstverwirklichen kann. Dazu gehört der obligate Gumbrecht, und "Starphilosoph" Markus Gabriel darf sich wie viele andere vor ihm über "linke Korrektheit" ereifern. Eine Hand wäscht die andere. Dass es dabei nicht um die Debatte geht, belegt der Umstand, dass von meinen ca. 30 Leserbriefen, die die neue Oberflächlichkeit und die Entprofessionalisierung im Feuilleton kritisieren, kein einziger abgedruckt wurde. Man veröffentlicht halt lieber Stimmen, die der rechten Korrektheit nach dem Mund reden.
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