22.09.2009

Unterwegs als digitaler Nomade – ein Selbstversuch

Es gibt – leider – keine Internetexperten, denn in diesem Hypermedium ändern sich die Sitten und Gebräuche schneller, als man folgen kann. Fest steht einzig: Wenn alle Menschen in Lichtgeschwindigkeit Texte, Bilder, Töne, Filme und andere Daten austauschen und alle untereinander oder in Gruppen kommunizieren können, ist vieles möglich. Mehr auf jeden Fall, als wir uns derzeit vorstellen können und vielleicht auch wollen. In neuen Medien werden – wie soll’s auch anders sein? – anfänglich die bestehenden Geschäftsmodelle abgebildet, wir erinnern uns: Am Radio wurden Zeitungen vorgelesen, im Fernsehen Radiosendungen gezeigt und im Internet dann Bestehendes verbreitet. Erst allmählich setzt sich McLuhans Gesetz durch: The medium is the message, oder anders gesagt: Form und Inhalt sind untrennbar verbunden. Erst Ebay, Amazon und jetzt die Social-Media-Anwendungen von Xing über Facebook bis Twitter (und all die Chats und Blogs) nutzen die neuen Möglichkeiten. Die Regel ist einfach zu verstehen: Was man in anderen Medien genauso gut (oder besser) tun kann, hat im Internet keine Chance. Mit der Entstofflichung der Information erst wurde beispielsweise ein Google-Geschäftsmodell möglich. Die Google-Strategie ist dabei ebenso simpel wie erfolgversprechend: Google sammelt (gratis) und strukturiert (teuer) alle vorhandenen Daten und verkauft diese Daten beliebig neu kombiniert weiter. Dabei geht es natürlich nicht um das Bewahren des Weltwissens, sondern um den harten Verdrängungswettbewerb gegen, beispielsweise, Zeitungs- und Buchverleger. Die haben den Konkurrenten anfänglich nicht wahrgenommen – und jetzt hat diese Unterschätzung bei manchen nahtlos in naive Bewunderung umgeschlagen. Und erst allmählich merken wir, dass Googles parasitäres Geschäftsmodell nur deshalb so gut funktioniert, weil das Urheberrecht nicht durchgesetzt wird und die Verlage ihre Inhalte – die sie teuer zu stehen kommen – gratis im Netz (zur beliebigen Verwendung) verbreiten. Ins volle Social-Media-Leben gestürzt Google oder Bing nutzt ein jeder, Amazon wurde zum grössten Buch- und Filmhändler, und News gibt es inzwischen bis zum Überdruss. Wie aber steht es um den neuen Hype im Netz, die Social-Media Netzwerke? Da hilft, wie so oft, nur ein Selbstversuch. Wer über Goethe reden will, muss Goethe gelesen haben. In unserer Branche aber reden die Leute über Twitter, Facebook und die Blogs, ohne zu wissen, was ein Retweet, eine Facebook-Gruppe oder ein Blog-Feed ist. Und so habe ich mich – zum Entsetzen meiner Tochter und vom milden Lächeln ernsthafter Kollegen begleitet – ins volle Social- Media-Leben im Netz gestürzt und bin so manchem begegnet, den ich dort eigentlich nicht erwartet hätte. Vor allem aber geschah das Umgekehrte: Es fehlt mancher der lieben Kollegen, die sich eigentlich fürs Neue interessiere müssten. Mein bisheriges kurzes Leben als digitaler Nomade gipfelte in der Gründung einer Facebook-Gruppe: Ja, ich habe meine (inzwischen fast 70) Facebook-Freunde aufgefordert, einer Gruppe von Leuten beizutreten, die sich nicht bei Libyen entschuldigen wollen. Innert weniger Stunden waren wir schon zehn, weitere werden, wenn sie wieder mal in ihren Account schauen, folgen. Und die Debatte läuft an; Christian Amsler – der wohl in unseren Regierungsrat gewählt wird – schreibt mir, dass er an einer Party mit 200 Leuten war, keiner habe sich für die Aktion von Bundespräsident Merz eingesetzt. Christian Heydecker, ein Schaffhauser FDP-Politiker und renommierter Anwalt, verwickelt mich in eine Debatte und teilt noch beiläufig mit, dass er eine Alkoholkontrolle nächtens gut – weil nüchtern – überstanden habe. Und mein Schwager schreibt aus Sardinien, die Sache mit Merz komme ihm doch reichlich ölig vor. Roger Köppel hat 117 Freunde Facebook (Facebook.com) ist inzwischen das grösste der Social Networks, die Registrierung und die Nutzung sind (noch?) kostenlos. Hier tauscht Nachrichten, Texte, Bilder und Videos aus, wer gemeinsame Interessen hat. «Freunde» – wie es im Facebook-Slang heisst – kommunizieren mehr oder weniger eifrig miteinander; Freund wird man, indem man einer Einladung Folge leistet oder jemanden einlädt. Und je mehr Freunde man hat, desto höher ist man auf der Facebook-Hierarchie geklettert. Roger Köppel hat auf Facebook 117 Freunde (Stand 22.08.), er und ich haben neun gemeinsame Freunde, darunter Filippo Leutenegger oder Frank Bodin, der Facebook auch dazu genutzt hatte, zu seiner Vernissage «Fotografieren beim Fotografieren» einzuladen. Und, ach ja: Roger Köppel hat eine aus 227 Leuten bestehende Fan- Gruppe, 35 weitere haben sich zur Gruppe: «Ich möchte auch wie Roger Köppel im Editorial gemalt werden» gesellt, und 33 – da tun sich die Abgründe von Facebook auf – «möchten Roger Köppel den ganzen Tag mit Skischuhen auf dem Kopf herumlaufen, und Urs Paul Engeler auch». Bei der Prominenten längst zur Ehre gereichenden Gruppe jener, die ihnen «in die Fresse hauen» möchten, bringt es der Weltwoche-Verleger auf 36 Leute. Zum Vergleich: Hier führt Roger Schawinski mit (kumuliert) 198, die ihm entweder die «Fresse polieren» oder anderes Übel antun wollen. Barack Obama wiederum hat bei Facebook 6,6 Millionen Bewunderer, Christoph Blocher immerhin 3900, und er ist auch Schweizer Gruppensieger: 65 Facebook-Gruppen beschäftigen sich mit ihm – Blocher hat aber auch 853 entschiedene Gegner. In meinem Blog schreibe ich, ja, ich auch, ein Tagebuch. Das sollte eigentlich Wochenbuch heissen, da ich – wie viele andere Blogger auch – keine Neiningers Welt: das Wichtigste in Kürze. Zeit finde, um meine Gedanken rund um die Medien täglich zu notieren. Worauf sich meine Leser aber verlassen können: Immer sonntags stelle ich vor, was mir bei der Lektüre der Sonntagszeitungen (Sonntag, SonntagsZeitung, Sonntagsblick, NZZ am Sonntag und Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung) aufgefallen ist. Im Zusammenspiel mit unseren Schaffhauser Nachrichten wird dort auch auf grössere Reportagen hingewiesen. Dafür ein Beispiel: Als der Schaffhauser Erich Schlatter – den das Schweizer Fernsehen in einem Dok-Film als harmlosen Spinner dargestellt hatte – in Spanien unter Mordverdacht verhaftet wurde, zeigten wir auf, dass es sich bei Schlatter um einen schwer kranken, bedauernswerten, aber gefährlichen Zeitgenossen handelt. Im Blog konnten wir auf den Dok-Film verlinken und die (auch) medienkritische Betrachtung im Netz publizieren. Blog schreiben heisst anders arbeiten: mit Links, Bildern, Bezügen. Und es heisst auch bescheiden werden: Zwar könnte jedermann im Netz den Blog lesen, er müsste aber zuerst gefunden werden. Das ist unter Tausenden nicht einfach; über ein paar hundert Leserinnen und Leser ist jeder Blogger bereits glücklich. Stumpfsinn bleibt auch im Internet Stumpfsinn Da kann dann Twitter helfen. Dieser Instant- oder Microblog ist bestens geeignet, um auf jeweils 140 Zeichen pro Beitrag Informationen auszutauschen oder Hinweise zu platzieren – vorausgesetzt, man hat eine Handvoll «Followers», die den eigenen Twitter-Kanal verfolgen. Während ich die Kurzbeiträge von 263 Personen (meist Journalisten) lese, sind es wiederum 233 Leute aus aller Welt, die meine Shortmessages zur Kenntnis nehmen. Die kamen dann – unter anderem – in den Genuss einer regelmässigen Berichterstattung vom Weltkongress des Internationalen Presseinstituts in Helsinki, wo ich in hohem Rhythmus die Vorträge und Debatten zusammenfasste. Dabei wuchs die Überzeugung, dass ein Kurznachrichtendienst auch im Regionalen Erfolg haben könnte. Unsere Redaktion probiert das derzeit aus. Und news1. ch, das Portal der Regionalverleger, twittert – wie andere Schweizer Medien auch – seit Wochen professionell. Facebook, Blog und Twitter – das sind drei der Ausdrucksmöglichkeiten im Internet, die genauer anzusehen sich durchaus auch dann empfiehlt, wenn man schon alles zu kennen glaubt. Und wie so oft lernt man nur durch eigene Anschauung; man erkennt die Vor- und Nachteile der schnellen und unreflektierten Kommunikation, taucht ein in eine bisher unbekannte Welt jener Generation, für die bezahlte Medien ein Konzept aus dem Altertum sind und die ständige Verbindung («always online») zur Lebensqualität gehört. Wo immer auf der Welt etwas geschieht, es schlägt sich innert Minuten in Facebook, Twitter und den Blogs nieder – es bleibt dann den traditionellen Medien vorbehalten, die Informationen einzuordnen und Wissen in Verstehen umzuwandeln. Bei uns mag Twitter wie eine Spielerei von Egomanen anmuten, andernorts hingegen wird mit diesem Dienst die Zensur oder auch die Polizei übertölpelt: Der chinesische Regimekritiker Gua Baofeng konnte nach seiner Verhaftung über sein Mobiltelefon auf Twitter folgenden Hilferuf absetzen: «Bitte helft mir, ich habe das Telefon genommen, als die Polizei schlief.» Und die chinesische Twitter-Gemeinde reagierte: Sie sandte Hunderte von Postkarten an die Polizei, bis Baofeng freigelassen wurde. Da geht es hierzulande, zugegebenermassen, um Banaleres, etwa (auch) um den Hinweis auf «leuchtendes Klopapier». Und das Ergebnis des Selbstversuchs? Zum einen: Die Social-Media-Plattformen werden masslos über- und gleichzeitig unterschätzt. Unterschätzt, weil sie eine neue Art der ungefilterten Sofortinformation rund um den Globus ermöglichen und sich hier eine Generation einfindet, die ebenso spielerisch wie unbeirrt mit den Instrumenten umgeht: Das iPhone und eine Wireless-Internetverbindung reichen, um weltweit zu kommunizieren. Und nirgends kann man auf einfachere Art und Weise alte und neue Freunde finden und mit ihnen in Kontakt bleiben. Überschätzt aber auch, weil sich auch hier ziemlich kleine Gruppen treffen; wer als Blogger ein paar tausend Leserinnen und Leser erreicht, gehört bereits zu den Stars der Szene. Zum Vergleich: Die Schaffhauser Nachrichten haben rund 40 000 tägliche Leser; das erreicht – wetten? – kein Schweizer Blogger auch Anzeige nur annähernd. Wen wundert’s daher, dass die meisten schnell aufgeben? Man darf, auch im Internet, Ursache und Wirkung nicht verwechseln: Stumpf- und Flachsinn bleibt auch dann Quatsch, wenn er übers Internet verbreitet wird, und originelle Denker und blendende Schreiber nehmen nicht proportional mit den technischen Möglichkeiten zu. Für engagierte Journalistinnen und Journalisten allerdings eröffnen sich hier neue, direkte Wege zum Publikum. Und meine Internet-Aktivitäten fielen auch den jungen Kollegen vom Klartext auf, die verdutzt kommentierten: «Ausgerechnet er, der immer wieder gegen Google anrennt und so den Eindruck eines Maschinenstürmers wider die digitale Vernunft hinterlässt, ausgerechnet Norbert Neininger, Verleger und Chefredaktor der Schaffhauser Nachrichten, hat es mit diesem digitalen Zeugs wie Blogs und Twitter gepackt. Während andere in seinem Rang über kurz oder lang das Handtuch werfen (Arthur Vogel vom Bund hat jüngst ausgebloggt), lässt uns Neininger über alle möglichen digitalen Vektoren an seinem Berufsleben teilhaben, wie man das sonst nur von der Generation der ‹digitalen Eingeborenen› kennt. Chapeau. Dass es bei Neininger gut kommt, sieht man auch am Stil seiner Digitalkommunikation. Blog und Twitter füllt er nicht einfach mit Zeitungsartikeln und Links auf selbige, sondern wählt dem Medium angemessene Formen.»

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