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Der «Null Stern Journalismus»

Stefan Millius

Wenige Tage vor dem Startschuss unserer neuen Onlinezeitung dieostschweiz.ch sass ich bei den St.Galler Konzeptkünstlern Frank und Patrik Riklin. Die beiden sind immer für eine Überraschung gut, und ich hatte die leise Hoffnung, dass sie vielleicht gerade an einem Projekt waren, das wir als Primeur vermelden konnten.

Das war leider nicht der Fall, aber wie immer war der Austausch dennoch spannend. Irgendwann kamen wir auf das «Null Stern Hotel» zu sprechen, das international erfolgreiche Kunstprojekt der Riklin-Brüder. Die Idee einer aufs nackte Minimum reduzierten Hotellerie hatte global Schlagzeilen gemacht und war im Jahr davor im Appenzellerland sehr erfolgreich an einem Standort unter freiem Himmel durchgespielt worden.

Das Projekt war inzwischen zu Ende, und eine riesige Warteliste von interessierten Gästen hatte sich angesammelt. Da lag viel wirtschaftliches Potenzial brach. Aber die beiden St.Galler hatten nicht vor, ihr «Null Stern Hotel» an einem neuen Ort zu installieren. Sie wollten ihr Werk nicht einfach weiter kommerzialisieren, sondern damit pausieren und sich Gedanken darüber machen, wie es weitergehen soll.

Als Unternehmer fand ich es natürlich tragisch, dass eine gut laufende Idee einfach eingemottet werden sollte. Dazu kam: In der Ostschweiz gab es Leute, die eine Inspiration dieser Art durchaus nötig hatten. Wenige Wochen vorher war in einer Gemeinde im Toggenburg ein hoffnungsvolles Hotelprojekt von den Stimmbürgern beerdigt worden. In der Region herrschte Katzenjammer.

Ich erwähnte im Gespräch mit Frank und Patrik Riklin, dass das Toggenburg vor diesem Hintergrund so etwas wie das «Null Stern Hotel» brauchen könnte – eine knackige Idee, die weit über die Region hinaus von sich reden macht und so für ein nachhaltiges Grundrauschen sorgt. Die Riklin-Brüder hörten sich das interessiert an und signalisierten schliesslich Bereitschaft, mit einer neuen Region über eine Weiterentwicklung ihrer Marke zu sprechen, aber unter dem Vorbehalt, dass die Idee ihres Kunstwerks unangetastet bleibt.

Mit dieser Information gelangten wir an die Tourismusverantwortlichen der Region Toggenburg. Es war eine sehr untypische journalistische Arbeit: Wir machten einer Seite einen Vorschlag, den die andere Seite nur angedeutet hatte. Statt nur Fakten zu rapportieren, versuchten wir als Medium, Fakten zu schaffen. Wir machten den Tourismusleuten im Toggenburg die Idee so schmackhaft wie möglich. Das Ergebnis war ein Text, in dem wir die theoretische Möglichkeit einer Zusammenarbeit in den Raum stellten – ohne die Sicherheit, dass daraus etwas wird.

Manchmal geht alles ganz schnell. Zehn Wochen nach unserem ersten Gespräch stellten Frank und Patrik Riklin und ihr Kompagnon Daniel Charbonnier nun dieser Tage gemeinsam mit Toggenburg Tourismus das Projekt «Zero Real Estate» vor. Ähnlich wie im «Null Stern Hotel» handelt es such auch hier um «immobilienbefreite Zimmer», also Räume ohne Dach oder Wände. Drei solcher Angebote werden im Toggenburg bis zum 2. September zu buchen sein, alle mit atemberaubendem Panorama unter freiem Himmel.

Im Toggenburg ist man ziemlich euphorisch und hoffnungsfroh, was dieses Projekt angeht. Und für die Riklin-Brüder ist das Toggenburg möglicherweise erst der Anfang. Man könne sich vorstellen, «Zero Real Estate» international auszurichten. Das erfolgreiche Kunstprojekt «Null Stern Hotel» könnte der Auftakt zu einer weltumspannenden neuen Form einer kommerziell nutzbaren touristischen Form sein.

«Das Null Stern Hotel soll den Tourismus im Toggenburg retten»: So hiess die allererste Schlagzeile unserer Onlinezeitung von Ende April 2018. Mitbewerber belächelten die Story, es hiess, wir hätten sie wohl bei einem Feierabendbier mit den Künstlerzwillingen Riklin kreiert. Bier war leider keines im Spiel, dafür war es etwas zu früh am Tag. Aber richtig ist: Wir haben damals die übliche Machart journalistischer Beiträge ignoriert. Stattdessen haben wir uns erlaubt, uns gemeinsam mit zwei findigen Köpfen Gedanken darüber zu machen, wie einer gebeutelten Region touristisch geholfen werden könnte. Und daraus wurde ein Projekt, das genau das tun könnte. Vielleicht darf, soll oder muss Journalismus im Jahr 2018 mehr tun als bisher, um wichtig zu bleiben.

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Stefan Millius ist Chefredaktor der Onlinezeitung «Die Ostschweiz».

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Unsere Kolumnisten vertreten ihre eigene Meinung. Sie deckt sich nicht in jedem Fall mit derjenigen der Redaktion.

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Kommentare

  • Ilse Oehler, 26.07.2018 12:49 Uhr
    Gefällt, die aufgeworfene Frage im Blog von Stefan Millius! «Vielleicht darf, soll oder muss Journalismus im Jahr 2018 mehr tun als bisher, um wichtig zu bleiben. » https://st.gallen-bodensee.ch/de/ Nicolas G. Hayek: «Viele unserer heutigen Journalisten haben ihren Führungsauftrag darauf reduziert, eine schwache Feder zu führen. » Marion Gräfin Dönhoff: «Ein Journalist ist nicht dazu da, ein Rad zu schlagen wie ein Pfau, und zu sagen: Seht her, wie schön ich das gemacht habe!»
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