13.04.2022

Fokus Serien

Dem Binge Watching auf der Spur

Wer eine Folge nach der anderen schaut, ist dem sogenannten Binge Watching verfallen. Wann ist man süchtig? Und ist das exzessive Serienschauen wirklich schädlich für den Schlaf? Dominique Wirz von der Universität Freiburg hat zu dem Phänomen geforscht.
Fokus Serien: Dem Binge Watching auf der Spur
Arbeitete an einem SNF-Projekt und forschte an der Michigan State University zum Thema Binge Watching: Dominique Wirz ist Oberassistentin am Departement für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Universität Freiburg. (Bild: Keystone/Anthony Anex)

Was macht es mit uns, wenn wir eine Serienfolge nach der anderen schauen? Und gibt es Tipps für den Umgang mit Binge Watching? Antworten von der Medienforscherin Dominique Wirz von der Universität Freiburg.

Nur noch diese eine Episode. Oder doch besser noch eine? Okay, das ist jetzt aber wirklich die letzte. Also wenn diese Folge so endet, kann ich gar nicht anders, als zu schauen, wie es weitergeht. Wer kennt es nicht, das sogenannte Binge Watching?

«Gemäss der gängigen Definition bin ich eine Binge Watcherin», sagt Dominique Wirz, Oberassistentin am Departement für Kommunikationswissenschaft und Medienforschung an der Universität Freiburg. Sie beschäftigt sich beruflich bereits seit längerer Zeit mit dem Phänomen und arbeitete an einem vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanzierten Projekt zu diesem Thema, das Ende 2020 abgeschlossen wurde. Zudem hat Wirz im vergangenen Jahr im Rahmen eines Fulbright-Stipendiums an der Michigan State University weiter zu diesem Thema geforscht.

Doch was heisst das überhaupt, Binge Watching? Die verbreitetste Umschreibung sei, so Wirz, «dass zwei oder mehr Folgen einer Serie am Stück geschaut werden.» Sie fügt aber gleich an: «Diese Definition ist umstritten, weil sie fast alle Menschen als Binge Watcher klassifiziert – unabhängig davon, wie oft sie das machen, wie gut sie ihre Mediennutzung unter Kontrolle haben und warum sie überhaupt Serien schauen.» Gemeinsam mit ihren Kolleginnen und Kollegen zeigt Wirz auf, dass eine weitere Differenzierung sinnvoll und auch nötig ist.

Flucht oder Erholung?

Wie ist die junge Forscherin überhaupt auf dieses Thema gekommen? «Das Forschungsfeld kam zu mir», so Wirz. Kurz vor dem Abschluss ihrer Doktorarbeit an der Universität Zürich habe sie das Angebot erhalten, in Freiburg an einem SNF-Projekt mitzuarbeiten. «Das war für mich aus verschiedenen Gründen eine attraktive Option. Natürlich auch, weil ich das Thema spannend finde.»

Spannend, da es einen starken Alltagsbezug habe, aber aus wissenschaftlicher Perspektive noch wenig erforscht sei. «Durch die Digitalisierung können wir heute unser Fernsehprogramm individuell zusammenstellen – wir können selber entscheiden, wann wir was schauen und wie lange.» Noch sei aber wenig klar, so Wirz, wie diese Möglichkeiten unser Nutzungsverhalten beeinflussen und wie sich dieses schliesslich auf unser Wohlbefinden auswirke.

Einer der Befunde ist, dass exzessives Serienschauen unsere Schlafqualität mindert. Wirz hält aber fest: «Wir haben sehr wenig Einflüsse von Binge Watching feststellen können – zumindest, wenn man es so definiert, wie das bisher meistens gemacht wird.»

Die gängige Definition würde zum Beispiel die Inhalte vernachlässigen und diese hätten natürlich auch einen starken Einfluss darauf, wie unterhaltsam wir eine Serie finden oder wie viel Spannung wir erleben würden. Und damit auch darauf, so die Forscherin, «wie erholt wir nach dem Schauen sind oder wie gut wir schlafen können.»

Weiter zeigt ihre Forschung, dass es auch eine Rolle spielt, warum wir mehrere Folgen am Stück schauen. «Wenn wir dies zur Unterhaltung und Entspannung machen, ist es völlig unproblematisch; wenn wir es dagegen tun, um Alltagssorgen zu entfliehen oder weil wir versuchen, mit unseren Freunden mitzuhalten, kann das zum Problem werden», fasst Wirz zusammen.

Tipp gegen Schuldgefühle

Was überrascht: Binge Watching kann sich positiv auf unser Wohlbefinden auswirken, insbesondere dann, «wenn wir in etwa so viele Folgen schauen, wie wir geplant haben, und nicht unkontrolliert», so Wirz.

Ist Binge Watching trotzdem vergleichbar mit anderen Süchten? Dominique Wirz widerspricht: «Grundsätzlich ist Binge Watching in den meisten Fällen keine Sucht.» Es gäbe nur sehr wenige Menschen, die ihre Seriennutzung so wenig kontrollieren könnten, dass andere Lebensbereiche darunter leiden. Aber: «Wenn Serien immer wieder als Flucht benutzt werden, anstatt Probleme anzupacken, kann sich ein Suchtverhalten entwickeln», so die Wissenschaftlerin. Und dieser Prozess sei durchaus vergleichbar mit anderen Süchten.

Die nächste Folge, die vom Streamingdienst nach wenigen Sekunden automatisch gestartet wird oder der Cliffhanger, der so raffiniert platziert ist, dass wir förmlich vor dem Bildschirm kleben bleiben. Doch was ist es genau, das uns zum ausufernden Schauen animiert?

«Die meisten Menschen schauen dann weiter, wenn die Spannung gerade sehr hoch ist», so Wirz. Das könne wie gesagt durch einen Cliffhanger erzeugt werden, aber auch durch einen grösseren Spannungsbogen über mehrere Folgen. «Die Beziehung, die wir zu den Charakteren entwickeln, fördert ebenfalls das Weiterschauen.» Oder externe Faktoren: «Wenn ich eine lästige Aufgabe aufschieben möchte, bin ich eher gewillt, weiterzuschauen.»

Früher mussten DVD-Boxen gekauft werden, wenn der Wunsch oder Drang bestand, eine ganze Staffel im eigenen Tempo zu schauen. Mit dem Aufkommen von Streamingdiensten sei das massiv einfacher geworden, so die Forscherin. Und deshalb sei Binge Watching auch stärker verbreitet. Netflix zum Beispiel habe den Begriff in seiner Kommunikation sehr prominent verwendet und ihn dadurch in unseren alltäglichen Sprachgebrauch gebracht. Mit der steigenden Verbreitung sei Binge Watching auch für die Forschung relevant geworden – allerdings werde erst seit drei, vier Jahren intensiv dazu geforscht.

Binge-Watching ist also nicht so schlimm, wie man gemeinhin annehmen könnte. Trotzdem: Welche Tipps hat Dominique Wirz, wenn man davon wegkommen möchte? «Wenn es hauptsächlich um die Cliffhanger geht, kann man sich vornehmen, nur kurz die Auflösung der Situation abzuwarten und dann mitten in der nächsten Folge aufzuhören.» Der zweite Tipp: Ihre Forschung lege nahe, dass es sinnvoll sei, wenn man plane, wie viel man schauen möchte – entweder die Anzahl Folgen oder die Zeitdauer – und sich dann auch daran halte. So kämen hinterher keine Schuldgefühle auf.

*Dieser Text von Raphael Amstutz, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

Keystone-SDA nahm sich in einer vierteiligen Serie dem Thema Serien an. Dies ist die letzte Folge.

Bereits erschienen:

1. Folge: Filmwissenschaftler Simon Spiegel über Spoiler

2. Folge: Regisseur Pierre Monnard über Cliffhanger

3. Folge: Drehbuchautorin Simone Schmid über den Handlungsbogen



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