Adolf Muschg ist leiser geworden. Rund ein halbes Jahr ist es her, dass er in der Öffentlichkeit aufgetreten ist, im vergangenen Herbst an den Hottinger Literaturgesprächen oder zuvor an einem Podium zu Goethes Beziehung zu Andermatt.
Er wird von den Medien nicht mehr für eine Stellungnahme zu allem und jedem angefragt. Zu Wort gemeldet hat er sich dennoch, etwa 2022 mit einer Solidaritätsbekundung mit dem ukrainischen Volk nach Putins Einmarsch, ein offener Brief, unterschrieben von tausend Autorinnen und Autoren. Im selben Jahr gehörte er zu den Mitunterzeichnern «gegen die Kriegsfinanzierung aus der Schweiz» oder für mehr Klarheit in den Beziehungen zur EU, dies am 30. Jahrestag des EWR-Neins.
Renommierte Auszeichnungen
Für sein literarisches Schaffen erhielt Muschg mit 75 Jahren den Gottfried-Keller-Preis (2019), zusammen mit seinem Kollegen Thomas Hürlimann. Vier Jahre zuvor wurde ihm der Schweizer Grand Prix Literatur für sein Lebenswerk verliehen. Diese renommierten literarischen Auszeichnungen folgten auf grosse Ehrungen: das Grosse Bundesverdienstkreuz 2004 oder den Georg-Büchner-Preis 1994.
Sein jüngster Roman ist «Aberleben» aus dem Jahr 2021. Darin erzählt Muschg von einem betagten Autor, der seine Krebsbehandlung absetzt, seine Ehe hinter sich lässt und aus der Schweiz wegzieht, um einen neuen Roman zu schreiben. Muschg selbst lebt in Männedorf an der Zürcher Goldküste mit seiner dritten Frau Atsuko Kanto.
Er kam am 13. Mai 1934 in Zollikon bei Zürich zur Welt. Hier, an der Goldküste, machte er seine ersten Erfahrungen mit dem liberalen Establishment, dem er immer wieder mit seinen Essays zur Schweiz den Spiegel vorhält, so etwa im Band «O mein Heimatland» (1998).
Muschg studierte in Zürich und Cambridge Germanistik, Anglistik und Philosophie und schlug anschliessend eine universitäre Laufbahn ein. Diese führte ihn von 1962 bis 1964 als Lektor an die Christliche Universität von Tokio.
Japan wurde eine Liebe fürs Leben. Immer wieder ist er dorthin zurückgekehrt. Das Land bildet eine erzählerische Klammer in seinem Werk, angefangen mit dem Debüt «Im Sommer des Hasen» (1965) bis hin zu «Heimkehr nach Fukushima» (2018).
1970 übernahm Muschg an der ETH Zürich den Lehrstuhl für Literatur. Die Verbindung von Schreiben und Reflexion wurde eines seiner Markenzeichen. Seine Bücher fallen durch kompositorische und stilistische Kunstfertigkeit auf. Mal spinnt der professorale Autor ein Gewebe aus Motiven und Anspielungen, mal verführt der gewiefte Erzähler in seinen Texten mit spielerischem Witz.
Das Opus Magnum
Im tausendseitigen Roman «Der rote Ritter» (1993) finden die beiden Talente zusammen. Das Werk ist die Frucht einer zehnjährigen Auseinandersetzung mit dem Gralssucher Parzival und zugleich mit sich selbst. Der Roman über eine Utopie und ihr Scheitern, über Liebe und Tod schlägt souverän eine Brücke zwischen Essay und Erzählen, literarischer Fiktion und persönlicher Betroffenheit.
Dieses Opus magnum ragt aus seinem Werk heraus, das Prosa, Theaterstücke, Essays, eine Biographie zu Gottfried Keller und Reden umfasst. Nicht zu vergessen sind die Frankfurter Poetikvorlesungen mit dem Titel «Literatur als Therapie» (1981). In diesen Vorlesungen beschwört Muschg die therapeutische wie die subversive Kraft der Literatur.
In seiner akademischen Lehrtätigkeit suchte er immer wieder Auswege aus dem universitären Betrieb. 1994 begründete er (zusammen mit Heinz F. Schafroth) an der ETH die legendäre «Holozän»-Lesereihe für junge literarische Talente. Viele waren da, Ruth Schweikert beispielsweise, oder Melinda Nadj Abonji mit einem ihrer ersten Auftritte. 2003 sagte Muschg auch zu, als die kriselnde Berliner Akademie der Künste einen vermittelnden Präsidenten suchte.
«Déformation existentielle»
In der Schweizer Öffentlichkeit haben vor allem seine politischen Beiträge zu mitunter heftigen Diskussionen geführt. Mit Gottfried Keller als Leitfigur wirbt der Citoyen Muschg stets pointiert und hartnäckig für eine weltoffene, liberale Heimat, die sich auch als Teil von Europa versteht.
Das Schreiben sei seine «déformation existentielle», wie er einmal sagte, die Literatur bezeichne eine Form des Fragens – auch an sich selbst. Er zeigte sich jederzeit bereit, sich persönlich, politisch und literarisch in der Öffentlichkeit zu exponieren. Damit hat er sich stets angreifbar gemacht. Auf von ihm selbst provozierte Kritik reagierte er ab und an mit spürbarer Verletztheit. In Erinnerung geblieben ist die Kontroverse mit Christoph Blocher, der ihn 1997 in die Nähe eines Landesverräters rückte. Seine weit ausholende Reaktion in «O mein Heimatland» erntete dann ihrerseits Kritik.
Weniger bekannte Seite
Dieser bekannten Seite des Intellektuellen Muschg stellte 2022 der Filmemacher Erich Schmid seinen Dokumentarfilm «Muschg – Der Andere» gegenüber. Als filmische Klammer dient ihm eine Reise nach Japan. Seine Halbschwester Elsa Muschg, die Autorin der Hansi-und-Ume-Geschichten, hat ihm den Weg vorgezeichnet.
Zu Beginn des Films liest der Autor aus seinem Buch «Rückkehr nach Fukushima». Von dort führt die Reise zurück in die Kindheit, zu seinem Vater, der bei seiner Geburt bereits 60 Jahre alt war, und zu seiner Mutter, die von schweren Depressionen geplagt war. Analytisch klug und nicht ohne Bitterkeit spricht Muschg hier von seiner havarierten Familie.
Der Film schliesst mit dem Besuch in einem Tempel in Kyoto. Er zeigt Muschg, der sich in Japan selbst kennen lernte. Seine literarischen Werke spielen da eine untergeordnete Rolle. In der «Der weisse Freitag» (2017) hat er selbst geschrieben, seine Texte kämen nicht mit sich ins Reine, denn «das Reine ist eine kalte Zone». Wichtiger als die literarischen Werke seien die Menschen, wie Muschg selber am Schluss des Dokumentarfilms auf einer Parkbank bemerkt: jene Menschen, die es ihm erlaubt haben, «mit mir selbst gut zu leben». (Andrea Fiedler und Beat Mazenauer, Keystone-SDA)