Herr Oberholzer, Ihr Buch «Im Paradies der weissen Häubchen» stösst auf grosse Resonanz. Was hat Sie eigentlich bewogen, Ihre Kindheit im Spital aufzuschreiben und auch zu publizieren?
Wann immer ich jemandem etwas über mein Aufwachsen im Kinderspital erzählte, sagten mir diese Menschen, das musst du unbedingt aufschreiben, das interessiert auch andere. Weil es so aussergewöhnlich und einmalig ist. Und auch, weil sowohl in medizinischer Hinsicht als auch, was Rehabilitation und Erziehung anbelangt, sich in der Zwischenzeit so viel verändert hat.
Wie haben Sie die Zeit beim Schreiben erlebt? War dies eine Art Verarbeitung?
Überhaupt nicht. Ich habe mir im Laufe der letzten zwei bis drei Jahre immer wieder Stichworte aufgeschrieben, damit ich die wesentlichen Erlebnisse nicht vergesse. Dann ging es nur noch darum, diese in eine möglichst gute Form zu bringen. Eine emotionale oder intellektuelle Verarbeitung fand dabei meiner Beurteilung nach nicht statt. Interessant finde ich allerdings, dass diese Emotionen, die ich eigentlich beim Schreiben hätte empfinden müssen, jetzt bei Lesungen hervorbrechen. Da muss ich mich recht gut vorbereiten, damit mir bei gewissen Stellen nicht die Augen feucht werden.
Sie haben die ersten Kindesjahre völlig abgeschlossen im Kinderspital Affoltern am Albis verbracht. Wenn Sie auf diese Zeit zurückschauen, welche Gefühle empfinden Sie heute?
Die zwölf Jahre im Spital empfand ich damals als etwas völlig Normales. Erst als ich anschliessend in die Welt hinausmusste, kam der Schock. Aus heutiger Sicht waren die zwölf Jahre paradiesisch. Darum der Titel. Im Spital war ich ein ganz normales Kind. Draussen dann das behinderte Kind, das zur Seite treten musste, wenn die anderen Kinder spielten.
Gab es bereits Reaktionen aus dem Spital-Umfeld?
Ja klar. Ich bat Prof. Dr. Andreas Meyer, den Chefarzt der Kinder-Reha-Schweiz, so heisst das Kinderspital Affoltern am Albis heute, ein Nachwort zu schreiben. Da wird akribisch aufgelistet, was sich in der Zwischenzeit alles verändert hat. Ein einziges Beispiel: Damals durften Eltern ihre Kinder nicht einmal pro Woche besuchen, heute übernachten sie mit Geschwistern und Hund dort. Aber auch frühere Mitpatientinnen und Mitpatienten oder noch lebende Schwestern und Therapeutinnen schreiben mir. Das ist sehr emotional.
«Es hat sich einiges zum Guten verändert»
Hat sich für behinderte Menschen in der Schweiz zwischenzeitlich viel geändert?
Es hat sich einiges zum Guten verändert. Dennoch ist im internationalen Vergleich die Schweiz diesbezüglich ein Entwicklungsland. Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln gleichen noch immer einem Abenteuer, behindertengerechte Wohnungen gibt es viel zu wenige, Behindertenparkplätze ebenso, und wenn ich in ein Restaurant ohne Stufen reinkomme und im Notfall sogar noch aufs WC könnte, dann hat das die Qualität eines Lottotreffers. In den EU-Ländern und den USA ist das alles selbstverständlich.
Sie haben anschliessend eine tolle Karriere gemacht. War es für Sie schwierig, in den Medien Fuss zu fassen?
Überhaupt nicht. Ich bewarb mich als Student als Filmkritiker bei einer Jugendzeitung. Die verlangten von mir eine Probearbeit, daraufhin bekam ich den Presseausweis und musste alle zwei Wochen für wenig Geld etwas schreiben. Wer regelmässig markiert, bekommt auch immer mehr Aufträge von anderen Zeitungen und Zeitschriften. Zumindest war das damals noch so. Ich schrieb also für immer mehr Medienhäuser. Keiner meiner Arbeitgeber wusste von meiner Behinderung. Als ich dann für Radio 24 zu arbeiten begann und bei Roger Schawinski im Büro erscheinen musste, war seine erste Frage denn auch: «Aha, Skiunfall?». Ich fand das total witzig, ihm war das – ich sah diesen Blick nachher nie mehr bei ihm – sichtlich peinlich.
«Mit dem Schicksal zu hadern, bringt rein gar nichts»
War der Film eine Art Traumwelt für Sie?
Nicht mehr und nicht weniger als für alle anderen Film-Enthusiasten auch. Der Grund, warum ich von Anfang an Filmkritiker wurde, war ein total pragmatischer. Ich bin kein rasender Reporter, werde nie irgendwelchen Ereignissen hinterherjagen können. Das Kino bringt die Welt zu mir. Es ist für mich die einzige Möglichkeit, journalistisch tätig zu sein. Musik- und Buchbesprechungen gingen auch noch, aber erstens bin ich da nicht kompetent, und zweitens sind diese Bereiche, was die journalistische Aufarbeitung anbelangt, schon länger am Aussterben.
Fühlten Sie sich jemals diskriminiert?
Im Beruf nie. Im Alltag permanent. Grad gestern kam wieder statt des angekündigten Niederflurzugs eine alte Komposition. Da bleibe ich dann mit meinem Rollstuhl einfach auf dem Peron stehen oder besser sitzen und warte eine Stunde im Durchzug.
Wenn man Ihr Buch liest, hat man eigentlich nie den Eindruck, dass Sie mit Ihrem Schicksal gehadert hätten. Täuscht dieser Eindruck?
Vielleicht in der Pubertät ab und zu. Mit dem Schicksal zu hadern, bringt aber rein gar nichts. Es macht nur schlechte Laune. Das kann ich mir nicht leisten.
Der Roman «Im Paradies der weissen Häubchen» umfasst 224 Seiten und ist im Hier und Jetzt Verlag erschienen. Am Mittwoch, 30. August, findet im Sphères in Zürich eine Lesung statt.