03.01.2021

Buchtipp

«Ein Virus ist tote Chemie»

Darf man sich in der heutigen Zeit über Ärzte lustig machen? Bei Jürg Knessl, dem Autor von «Der Chef oder der Weg des Chirurgen», erübrigt sich diese Frage: Er gehört selber diesem Berufsstand an. Ein Gespräch über Chefärzte, Corona und die gute alte Zeit.
Buchtipp: «Ein Virus ist tote Chemie»
Knessl ist selbstständig tätiger Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Lehrbeauftragter für Medizinethik an der Universität Zürich. (Bilder: zVg.)
von Matthias Ackeret

Herr Knessl, Sie sind Arzt im Hirslanden und haben soeben mit «Der Chef oder der Weg des Chirurgen» ein ironisch-hintersinniges Buch über die «Götter in Weiss» geschrieben. Verträgt es dies in Corona-Zeiten?
Es ist tatsächlich eine Zeit, in der man eher gedrückt und mit gesenktem Blick aneinander vorbeihuscht, anstatt anzuhalten, ein paar nette Worte auszutauschen und sich, alles Gute wünschend, voneinander verabschiedet. Auch mir ist vorübergehend der Humor abhandengekommen, und das ist, soweit ich mich erinnern kann, noch nie vorgekommen. Und dann konnte ich bei einer Gelegenheit unerwartet wieder unbeschwert lachen.

Wann war das?
Beim Sketch des deutschen Puppenschauspielers Michael Hatzius mit seiner überlebensgrossen, erzkonservativen Echsen-Puppe, welche die Corona-Krise anhand von angemalten Badewannenenten erklärt. Das ist irre gut, frisch, intelligent, witzig, hat enorm Tempo, und in sieben Minuten ist dann schon alles geklärt. Da wurde mir klar, dass man Unterhaltung und Humor nicht nur als einen leicht bekömmlichen Nachtisch in satten und trägen Zeiten des Wellbeing pflegen sollte, sondern dass man beides umso mehr in Zeiten der Not benötigt. So gesehen, verträgt sich ein humorvolles Buch über die Ärzte und die Zustände in den Kliniken sehr wohl mit den Niederungen der Corona-Zeiten. Vielleicht mag es sogar zum besseren Verständnis dessen beitragen, wie die Mechanismen beschaffen sind und was diese eigenartigen weissen Gestalten so tun.

Wie nehmen Sie Ihre Berufskollegen momentan wahr?
Man spürt, wie die eigenen Kolleginnen und Kollegen – deutlich mehr als noch während der ersten Corona-Welle – irgendwie «tiefer gehängt» unterwegs sind. Fragt man sie, wie es denn gehe, lautet die Antwort meist: «Es ist nicht mehr lustig» oder «So macht das keinen Spass mehr». Dieses Empfinden bahnte sich aus verschiedenen Gründen schon vor der Corona-Plage an, wurde aber durch die Pandemie massiv akzentuiert.

«Auch Chirurgen scheinen Menschen zu sein, die leiden, wenn sie sich zunehmend isoliert fühlen»

Inwiefern?
Die Unsicherheit über die weitere Entwicklung, die wirtschaftlichen Sorgen der freiberuflich Tätigen, das wiederholt notwendige Verschieben der bereits eingeplanten Operationen auf später mit dann möglicherweise erneuten Annullationen – all das drückt auf die Stimmung. Die nicht ganz unbegründete Furcht vor einer Ansteckung belastet die diesbezüglich stark exponierte Ärzteschaft nicht weniger als die Pflegenden und die Patienten. Im Vordergrund steht ganz klar der Verlust sozialer Aktivitäten und der zwischenmenschlichen Kontakte. Auch die Chirurgen scheinen Menschen zu sein, die leiden, wenn sie sich zunehmend isoliert fühlen. So, wie wenn der Meteorologe bei null Grad mit starkem Nordwind von gefühlten minus zehn Grad spricht, hat man den Eindruck, diese Virus-Welle sei eigentlich eher eine gefühlte Pest. Was die Befürchtungen noch verstärkt, ist weniger eine denkbare dritte Welle als vielmehr die Möglichkeit, es könnte sich bald einmal auch um eine Dauerwelle handeln.

Wieso das?
Die verwirrenden und sich oft auch widersprechenden Meinungen der Experten wie auch die spürbare Verunsicherung der Entscheidungsträger nagen beständig an der gewohnten und schützenden Routine. Aber Experten, das weiss man mittlerweile, sind lexikalisch einfach Menschen, die sich mit einem Thema länger beschäftigt haben, also eigentlich interessierte Laien. All dies erhöht den Stresslevel, und das, so sagt man zumindest, soll nicht gesund sein. Und Corona-getränkte Koronarien sind auch nicht gerade das, was man sich vor Weihnachten wünscht.

«Heute fehlen die alles beherrschenden Alphafiguren»

War früher alles anders?
Alles sicher nicht, sonst würde man im erwähnten Buch keine Bezüge zur heutigen Situation erkennen. Aber vieles schon. Im Verhältnis der Geschlechter ist einiges besser geworden. Das ist gut so. Ein Trend zu einem neuen Puritanismus ist aber unverkennbar. Wenn einem ständig bewusst ist, dass das leise Knistern im Operationssaal nichts anderem als den elektrostatischen Entladungen an den Bildschirmen der Anästhesie entsprechen kann, so hat sich schon einiges geändert. Dessen ungeachtet, finden Arztromane am Kiosk nach wie vor grossen Absatz. Und wenn man sich überlegen muss, ob es noch vertretbar ist, in einen Lift zu steigen, in dem schon eine jüngere weibliche Person drin ist, dann sind zweifellos Veränderungen eingetreten. Früher wollte man in einem solchen Fall in den Lift eintreten, heute will man lieber aus dem Lift austreten. Eigenartigerweise geriet diese Problematik unter der Corona-Dunstglocke etwas in den Hintergrund.

Tatsache?
Ich erzähle im OP-Bereich schon länger keine Witze mehr, dies doch eher zum Leidwesen als zur Erleichterung der dort Arbeitenden. Früher waren die meisten Chefärzte nicht teamfähig. Nicht alle waren schlecht. Heute müssen sie ausnahmslos teamfähig sein. Zumindest auf dem Papier. Wo sind heute noch die Vorbilder für die Studierenden, für die jungen Ärztinnen und Ärzte? Persönlichkeiten, die nicht nur fachlich bewundernswert gut sind, sondern gleichzeitig auch hoch motiviert, belastbar, warmherzig, mit einem guten Charakter bestückt, immer für ihre Patienten da und dazu noch witzig? Ärztinnen und Ärzte, die man nie vergisst?

«Wissen ist Macht, Nichtwissen macht bekanntlich auch nix»

Nun hört man von den verschiedenen Spitälern immer wieder von Skandalen und Streitigkeiten zwischen Chefärzten. Woran liegt das?
Da muss ich einen kurzen Ausflug in die Gefilde der Vulgärpsychologie unternehmen. Wenn in einer hierarchischen Struktur der Oberste dominant, stark und gefürchtet ist, rücken die Untergebenen zusammen und versuchen zu überleben. Wenn es keine wirklich vernichtende Diktatur ist, kann es durchaus sein, dass man es untereinander auch gut haben kann, und man erinnert sich später gern an das Erlebte. Wenn von oben nur wenig Druck kommt, bilden sich Untergruppen mit jeweils einem eigenen Anführer, die sich untereinander verbissen bekriegen. Ich sage nicht, dass es gut so ist, aber es entspricht dem, was man beobachtet. Wichtig ist, dass derjenige oben nicht allzu bösartig ist und dass man ihn respektieren kann, sonst ist es nicht lustig. Heute fehlen die alles beherrschenden Alphafiguren. Dies hat auch mit dem Trend zur Subspezialisierung zu tun. Vor zwei Generationen beherrschte der chirurgische Chefarzt fachlich alles, zumindest konnte er praktisch bei allem, was in seinem Ressort geschah, kompetent mitreden.

Und heute?
Heute gibt es «viele Häuptlinge und wenig Indianer». Über diesen Häuptlingen thront der Spitalverwalter, der vom medizinisch Fachlichen zwar weniger weiss als die ihm unterstellten Chefärzte, dafür aber die Macht über die ihm subordinierten Ärzte innehat. Und wir wissen, spätestens seitdem vor einigen Jahren ein sich der Problematik der Narzissmus-Erkennung widmendes Buch auf den Markt gekommen ist, wie man die Narzissten erkennt. Unter den Ärzten gibt es von ihnen nicht weniger als in anderen Sparten. Wissen ist Macht, Nichtwissen macht bekanntlich auch nix.

Fahren Sie fort.
Die fleischgewordenen Chefärzte konnten ihren Narzissmus, so sie einem solchen unterliegen, direkt ausleben. Die anderen, freie Belegärzte wie ich einer bin, konnten dann kompensatorisch, sie wurden ja keine Chefärzte, ihrem Narzissmus in der Praxis frönen. Dort haben sie den einen wichtigen Vorteil, dass sie gegen keine ihnen nach dem Geldbeutel und dem Rang trachtenden Konkurrenten zu kämpfen haben. Sie sind ja allein und müssen somit niemanden zum Schweigen bringen, der ihnen noch Unfähigkeit vorhalten könnte. Und wenn ein Belegarzt ausflippt oder aufgibt, steht das in keiner Zeitung. Die Präriehunde können bei Gefahr schnell im Bau verschwinden. Das können die Giraffen nicht. Eines ist dabei wichtig: Heute kommt vieles ans Tageslicht, was noch vor einer Generation unter dem Deckel geblieben wäre. Die zu den heute lebhaft diskutierten Chefarzt-Problemen führende seelische Struktur habe ich, soweit es möglich war, in meinem Buch zu beleuchten versucht.

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Was hat Sie bewogen, dieses Buch zu schreiben?
Ich wollte das Erlebte bereits vor dreissig Jahren niederschreiben. Dann wären es aber zwei Folianten von je 400 Seiten Umfang geworden, und niemand hätte sie je in die Hand genommen. Bekanntlich ist die Zeit zwar ein schlechter Kosmetiker, dafür aber ein guter Arzt. Nach und nach löschte das Gedächtnis dieses und jenes, und das Wesentliche schälte sich heraus. Aus einem Erlebnisbericht ist nun nach so langer Zeit eine Art Geschichtsbuch geworden. Dies ermöglichte aber, unserem damaligen Chef, der uns alle prägte, eine Hommage zu verfassen. Das ist viel wert.

Welchen Einfluss hat Corona auf Sie als Chirurgen?
Einen spürbar negativen. Die ganze Corona-Chose geht einem schon mächtig auf den Geist. Mein persönlicher «Vorteil» besteht darin, dass ich mich beruflich doch langsam in der Landephase befinde. Wäre ich jetzt Mitte vierzig, mit drei Kindern in der Ausbildung, dann wäre ich wohl eine traurige Jammergestalt. Die Gnade der frühen Geburt sozusagen. Was mich zunehmend irritiert, ist, dass ich beginne, den in den Medien präsentierten Zahlen zu misstrauen. Nicht aufgrund irgendwelcher eigenen Vorbehalte, sondern rein im Quervergleich der einzelnen Angaben.

«Käme ein Virus von einem anderen Planeten, wäre wohl aus die Maus»

Machen Sie ein Beispiel.
Wenn es im Fernsehen heisst, bestimmte Zahlen würden rapide steigen, und man ein paar Tage später in einer grossen Zeitung eine Grafik sieht, die das Gegenteil belegt, kommt man ins Grübeln. Sonst geht es mir da nicht anders als meinen Kollegen. Man fühlt sich wie mit zurecht-gestutzten Flügeln. Das Fliegen ist viel anstrengender, man mag irgendwie nicht mehr. Der Elan, die Zukunftszuversicht schwinden. Alles scheint unter einer gräulichen virtuellen Decke zu liegen. Survival, aber nicht of the fittest, sondern der verbissenen Zähen, der mürrischen Zyniker, die schon vieles gesehen haben. Vielleicht mag man noch einmal, vielleicht noch zweimal die Ernte einfahren. Der Herbst als Dauerjahreszeit. Es ist die Stimmung derjenigen, die in Diktaturen leben und sich irgendwie arrangieren müssen. Die Welt als absurdes Theater. Das war die Schweiz früher nicht in diesem Ausmass.

Wie lange dauert die ganze Pandemie noch?
Ein Virus ist tote Chemie. Es ist unsterblich, weil es gar nicht lebt. Ein parasitäres Grossmolekül, das unseren Stoffwechsel benötigt und sich ohne Zellen der Lebenden nicht vermehren kann. Unsere Spezies hat in Hunderttausenden von Jahren, seit es uns in der heutigen Form gibt, gelernt, Immunität zu entwickeln. Das Virus wechselt ständig seinen genetischen Code, um uns auszutricksen. Ein Wunder der Natur, tot, aber schlau. Das ist seine Natur. Ein natürliches Virus wird uns nicht alle töten, wir haben unser genetisches Gedächtnis. Käme ein Virus von einem anderen Planeten, eines, mit dem wir noch nie etwas zu tun hatten, dann wäre wohl aus die Maus.

Wirklich?
Es würde uns ergehen wie den nordamerikanischen Indigenen, als die Europäer ihnen die Pocken mitbrachten. So hoffen wir, dass wir dieses Virus genügend kennen. In einem solchen Fall ist es dann wahrscheinlich, dass dieses Fledermaussouvenir im nächsten Frühsommer von uns lässt. Dann wird das allgemeine Niveau wieder steigen. Wir können dann erneut auf hohem Niveau jammern, statt uns bloss mit dem hohen Niveau der Neuinfektionen herumschlagen zu müssen.



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