22.04.2020

Peter Hossli

«Ich schrieb über 1500 Seiten ab»

Ein Verbrechen im Kanton Aargau erschüttert 1957 die Schweiz. Anhand der Gerichtsakten hat Journalist Peter Hossli mit «Revolverchuchi» eine Milieu- und Gesellschaftsstudie geschrieben. Hossli über die Recherche im Staatsarchiv und die Reaktionen von Verwandten.
Peter Hossli: «Ich schrieb über 1500 Seiten ab»
Anhand erstmals zugänglicher Gerichtsakten zeichnet Peter Hossli «eines der grausamsten Verbrechen der schweizerischen Kriminalgeschichte» nach, wie Zeitungen den Mordfall Stadelmann damals beschrieben. (Bild: Ralph Diemer)
von Matthias Ackeret

Herr Hossli, Sie beschreiben in «Revolverchuchi» einen spektakulären Mordfall in den 50er-Jahren im Kanton Aargau. Wie sind auf dieses Thema gestossen?
Es war ein Geschenk meines Schwiegervaters. Er hat mir die Geschichte während des Weihnachtsessens 2017 erzählt. Ein zeitloser Stoff aus einer vergangenen, aber nicht allzu fernen Zeit. Er hat mich sofort gepackt, weil ich darin eine universelle Parabel sah: Menschen, die aus ihren Leben ausbrechen wollen, dafür Geld benötigen und deswegen einen kruden Plan aushecken. Dieser scheitert, wie schon vieles in ihren Leben gescheitert ist. Unterlegt ist alles von einer berührenden Liebesgeschichte.

Sie sind selber im Aargau aufgewachsen. Haben Sie bereits in Ihrer Jugend von dieser Geschichte gehört?
Nein, ich hatte noch nie davon gehört. Der Fall ist aufsehenerregend, aber er ging irgendwie vergessen. Vielleicht, weil es die Boulevardpresse damals noch nicht gab, vielleicht, weil er in einer Zeit geschah, die von der Geschichtsschreibung wenig beachtet wird. Nach vielen Jahren als US-Korrespondent und Reporter, der oft im Ausland recherchiert, war diese Arbeit für mich eine Art «home coming». Die Todesfahrt begann in der Stadt Baden, wo ich aufwuchs und die Matura machte. Das Wasserschloss, in dem das Opfer starb, habe ich als Kind und Jugendlicher oft besucht. Angesiedelt ist der Fall im Milieu und der Generation meiner Eltern.

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Ihr Buch ist sehr detailreich und erhebt den Anspruch auf Authentizität. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Mir war klar, dass ich die Gerichtsakten benötige, um den Fall aufzuarbeiten. Das Staatsarchiv des Kantons Aargau teilte mir mit, die Akten seien bis 80 Jahre nach dem letzten Eintrag gesperrt. Das war im November 1972, als Max Märki aus der Haft entlassen wurde. Es sei denn, der Täter sei seit mehr als zehn Jahren tot. Mit Hilfe meines ehemaligen Deutschlehrer konnte ich das belegen, worauf ich die Akten erhielt. Diese durfte ich vollständig lesen, aber weder kopieren, scannen noch fotografieren. Deshalb schrieb ich über 1500 Seiten Zeile für Zeile ab. Zudem las ich etliche Zeitungsartikel aus jener Zeit, die den Fall jedoch eher ungenau widergeben.

«Die Akten sind ein Schatz, den es zu heben galt»

Im Buch kommen Zitate und Gedanken sowie Beschreibungen von Landschaften vor. Wie haben Sie das recherchiert?
Was im Buch steht, lässt sich durch Akten oder Augenzeugen belegen. Die Akten sind ein Schatz, den es zu heben galt. In den Verhörprotokollen schildern die Täter, was sie zueinander gesagt haben, und was sie dachten. Um die Beschaffenheit der Natur beschreiben zu können, beispielsweise die Verfärbung der Blätter im Wasserschloss oder die Temperatur der Reuss, besuchte ich die Tatorte sowie die Fundstelle der Leiche an den jeweiligen Jahrestagen.

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Haben Sie Personen, die den Mörder und das Opfer kannten, konsultiert?
Ja, ich traf mich mehrmals mit dem Bruder von Max Märki. Zudem sprach ich mit einem seiner Stiefkinder. Die Akten erwiesen sich als die verlässlichsten Quellen.

Gab es von Verwandten und Bekannten Reaktionen auf Ihr Buch?
Ja, es sind persönliche Reaktionen. Ein Enkel sagte mir, er sei dankbar, dass ich ihm seinen Grossvater nahegebracht habe. Er habe wenig über ihn gewusst. Eine Tochter erzählte mir, ihr Vater hätte mit ihr nie über die Tat gesprochen. Jetzt rede er über das Buch mit ihr. Stiefkinder und Stiefenkel, die Märki nach seiner Entlassung kannten, sind dankbar, dass ich einen Menschen und nicht einfach einen kaltblütigen Mörder gezeichnet habe.

Eigentlich wäre der Mord an Peter Stadelmann ein «perfektes Verbrechen» gewesen. Warum ist das Ganze trotzdem aufgeflogen?
Das Paar hatte nicht die Absicht, Stadelmann zu töten, die beiden wollten ihn ausrauben und mit dem Geld in die USA auswandern. Ihr Plan ging schief, deshalb wurden sie zu Mördern. Letztlich zerbrach Märki daran. Mehr dazu im Buch.

«Jeder Mordfall ist einzigartig, die Motive sind stets anders»

Nun war der Aargau immer wieder Schauplatz spektakulärer Verbrechen wie beispielsweise derjenigen von Werner Ferrari, dem Massaker von Rupperswil oder Ihrer Story. Ist dies Zufall?
Jeder Mordfall ist einzigartig, die Motive sind stets anders. Die Zahlen des Bundesamtes für Statistik besagen, dass der Aargau mit jährlich 50 Straftaten pro 1000 Einwohnern im schweizerischen Mittelfeld liegt. Der kriminellste Kanton ist Basel-Stadt mit 110 Straftaten pro 1000 Einwohner. Genf, die Waadt, Neuenburg, Zürich, Bern und Solothurn liegen vor dem Aargau. Der Aargau ist ein Sonderfall. Dem Kanton fehlt eine gemeinsame Identität. Er ist ein Kunstprodukt, 1803 zusammengesetzt von Napoleon. Die einzelnen Regionen haben wenig miteinander zu tun. Ein eigentliches Zentrum fehlt. Badener gehen selten nach Aarau, Menschen aus Wohlen selten nach Zofingen.

Sie arbeiten momentan für das Schweizer Fernsehen und die NZZ am Sonntag. Haben Sie bereits wieder ein Buch in petto?
Es gibt zwei Projekte. Ob sie zustande kommen, wird sich zeigen. Es ist mein Beruf, wahre Geschichten zu erzählen. Die guten kann man nicht suchen, sie finden einen. Die «Revolverchuchi» hat mich gefunden. Natürlich hoffe ich, dass mich weitere gute Geschichten finden werden.



Peter Hosslis «Revolverchuchi. Mordfall Stadelmann» ist im Zytglogge Verlag erschienen, hat 236 Seiten und kostet 34 Franken.

 



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