Peter Bichsel kennen fast alle. Seine legendären Milchmann- und Kindergeschichten sind bis heute Schullektüre. Während Jahrzehnten haben seine Kolumnen eine breite Leserschaft erreicht. Und in zahllosen Interviews hat er Einblick in sein Denken und Empfinden gegeben.
Diese Popularität hat mit der Art zu tun, wie er erzählt und argumentiert hat. Bichsel war ein echter Erzähler; seine Geschichten und Gedanken trug er vor, als hätte er sie beim Reden oder Erzählen fortwährend entwickelt. Der Hochmut des Wissenden ist ihm völlig abgegangen. Dabei täuscht die vordergründige Einfachheit seiner Sprache gerne darüber hinweg, dass in seinen Geschichten ein Stachel der Irritation oder des Widerspruchs steckt.
Ein Lehrer fürs Leben
Peter Bichsel kam 1935 in Luzern zur Welt, er wuchs in Olten auf und besuchte in Solothurn das Lehrerseminar. Anschliessend wirkte er von 1955 bis 1968 in der Region Solothurn als Primarlehrer, «aus Überzeugung», wie er einmal schrieb. «Ich wollte der Menschheit etwas beibringen, ich wollte die Menschheit verändern.»
Wie wichtig gerade eine Lehrperson sein kann, hat er selbst erfahren. Seine Erweckung zum Schriftsteller verdankte er, wie er später immer wieder betont hat, seinem Lehrer Kurt Hasler. Er wäre kaum Schriftsteller geworden, schreibt er, wenn dieser nicht «unter dem Schutt von dreissig Rechtschreibfehlern» sein Talent entdeckt hätte. Nicht zuletzt wegen dieser Erfahrung hat er sich immer wieder mit der Rolle des Lehrers und mit der chancengerechten Schule befasst.
Mitten in die Lehrerzeit fiel 1964 das Erscheinen von «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen». Bichsel erregte auf Anhieb Aufsehen. Die Koryphäe der Literaturkritik, Marcel Reich-Ranitzki, verlieh ihm mit einer euphorischen Kritik die literarischen Weihen und verkündete «die Entdeckung eines jungen, bisher gänzlich unbekannten und zugleich hochbegabten Schriftstellers».
Damit war der Grundstein für ein literarisches Werk gelegt, das, so Reich-Ranitzki, sein «eigenartiges Mass in sich» hat. In den Milchmann-Miniaturen ist ein literarischer Stil angelegt, der in den unterschiedlichsten Facetten zum Kennzeichen Bichsels wurde: vertrackt einfach. Nichts klingt so unverwechselbar leicht wie eine Geschichte aus seiner Hand.
Bichsel wurde dafür zahlreich ausgezeichnet, etwa mit dem Grossen Schillerpreis (2012), mit dem Solothurner Literaturpreis ((2011) oder mit dem Gottfried-Keller-Preis (1999). Die Theologische Fakultät der Universität Basel verlieh ihm 2004 den Ehrendoktortitel.
Was wäre, wenn...
Die Triebfeder von Bichsels Erzählen ist der Konjunktiv «Was wäre wenn». Bichsel-Geschichten klingen verführerisch leicht. Wir lesen mit und denken: Genau so könnte es sein - oder umgekehrt. Und zwischen den Zeilen spüren wir, dass es das Wahre nur gibt, wenn wir das wahrhaftig Mögliche verteidigen.
Lassen wir uns aber nicht täuschen. So einfach seine Sätze anmuten, so verraten sie dennoch einzigartiges Raffinement und wohl bedachte Klarheit. Ihr Geheimnis liegt im feinen, oft unmerklichen Verstoss gegen Konventionen - grammatikalische wie rhetorische.
Bichsel knüpfte keine Pointen und verkündete keine Botschaft. Lieber hielt er mitten in einer Erzählung inne, um deren Fortgang und Ende den Leserinnen und Lesern zu überlassen. Damit wollte er ihnen, wie er einmal sagte, «die Möglichkeit geben, weiterzudenken, weiterzuarbeiten, mitzuarbeiten an diesen Geschichten».
Das Kolumnen-Gebirge
Peter Bichsels Werk umfasst eine Reihe von Erzählbänden wie «Die Jahreszeiten» (1967), ihm selbst vielleicht das liebste Buch, «Zur Stadt Paris» (1993) oder «Cherubim Hammer und Cherubim Hammer» (1999). Dazu gibt es von ihm Reden und Essays, in Büchern wie «Des Schweizers Schweiz» (1969) oder «Schulmeistereien» (1985).
Vor allem aber sind die unzähligen Kolumnen zu seinem Markenzeichen geworden. In vierzig Jahren entstand ein Geschichtengebirge, das getrost sein Opus magnum genannt werden darf. In seinen Kolumnen hat Bichsel die Kraft des Erzählens mit politischem Einspruch und poetischer Raffinesse verbunden. Es ist kein Zufall, dass er sich besonders für diese Textform erwärmte, die eigentlich eher journalistisches als literarisches Ansehen geniesst.
Der erzählende Gestus und die behutsam abwägende Art dieser kurzen Texte gibt den Leserinnen und Lesern das gute Gefühl, ernst genommen zu werden, gerade auch da, wo ihnen der Autor mit Leidenschaft widerspricht.
So einzigartig wie populär
In den letzten Jahren hat sich Peter Bichsel vom Schreiben zurückgezogen. Er sei kein leidenschaftlicher Schriftsteller, beteuert er. Viel wichtiger ist ihm das Erzählen. Glücklicherweise gibt es von ihm eine Reihe von Büchern und Texten, deren Lebensklugheit, wie der Autor Ralf Rothmann schreibt, «immer wieder Mut macht zur eigenen Geschichte und aus der Sprachlosigkeit heraushilft». Genau das macht Peter Bichsel so einzigartig wie populär.
Am Samstag ist er in einem Pflegeheim in Zuchwil «friedlich eingeschlafen». Wie sein Umfeld der Nachrichtenagentur Keystone-SDA bestätigte, hätte er seinen runden Geburtstag am 24. März gerne noch gefeiert. Nicht zuletzt, weil dann ein dem Autor gewidmetes Projekt eingeweiht werden sollte: das «Büro Bichsel», zu dem auch ein mobiles Museum gehören soll. Bichsels Themen sollen damit in die Öffentlichkeit getragen werden und über seinen Tod hinaus lebendig bleiben. (Beat Mazenauer, Keystone-SDA/nil)
Der Autor dieses Nachrufs ist Mitherausgeber der erweiterten Neuausgabe des Bandes «Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennenlernen». 2024 hat er das Projekt «Büro Bichsel» mitbegründet, das ein Mobiles Museum, eine Webseite und in der Solothurner Altstadt einen Lese- und Begegnungsraum betreibt.