Innerhalb von gut dreieinhalb Wochen (bis Sonntag, 5.5.) kam der britische Siebenteiler «Rentierbaby» weltweit schon auf 56,5 Millionen Abrufe (Views), allein 18,6 Millionen davon vergangene Woche, wie der Streamingdienst am Dienstagabend preisgab.
Sogenannte Views sind geschaute Stunden geteilt durch die Gesamtlaufzeit - die in diesem Fall knapp vier Stunden beträgt. Die Thriller-Serie mit schwarzem Humor wurde am 11. April veröffentlicht. In vielen Ländern ist sie die Nummer eins in den Netflix-Charts, auch in Deutschland, Österreich und der Schweiz war sie es schon. Selbst Thriller-Altmeister Stephen King outete sich als Fan.
Als ein erfolgloser Comedian, der in einer Bar arbeitet, einer traurigen Kundin Tee und ein Lächeln schenkt, entwickelt diese eine Besessenheit ihm gegenüber, die zerstörerische Züge annimmt – so beschreibt Netflix die Serie mit dem Originaltitel «Baby Reindeer». Gadd ist darin als Hauptfigur Donny zu sehen, Jessica Gunning als Stalkerin Martha und Nava Mau als Donnys Transgender-Freundin Teri.
Eine wahre Geschichte
Die Geschichte hinter der Serie, zu der auch die gescheiterte Liebesbeziehung mit einer Transfrau gehört, soll auf wahren Begebenheiten beruhen – «this is a true story», heisst es im Vorspann. Autor und Hauptdarsteller Gadd schildert schonungslos traumatische Erlebnisse.
Im wahren Leben wurde Gadd als junger Komiker von einem einflussreichen Mann aus der Kulturbranche unter Drogen gesetzt und sexuell missbraucht. Zwischen 2015 und 2017 wurde er dann von einer Frau gestalkt. Mehr als 41’000 E-Mails, 350 Stunden Sprachnachrichten, Hunderte Tweets, Dutzende Facebook-Nachrichten und Briefseiten bekam Gadd nach eigenen Angaben von der Stalkerin.
«In ‹Rentierbaby› geht es um das innerliche Chaos in meinen frühen Zwanzigern», sagte Gadd dem britischen Magazin GQ. «Ich hatte mich in eine Person verliebt, die trans war, aber das brachte eine Menge Fragen mit sich und all diese Scham, die man hat, wenn man jung ist.» Damals sei noch nicht viel über Transidentität gesprochen worden. Die Serie beschönige nichts, betont Gadd. Er habe schon vor langer Zeit gelernt, dass Scham einem nichts nütze. «Die einzige Möglichkeit, diese negativen Emotionen zu überwinden, ist, sie direkt anzugehen.»
Die Comedy-Drama-Serie bürstet Klischees gegen den Strich, indem das Stalking-Opfer männlich ist und dazu beiträgt, dass die Belästigung immer weitergeht. Die Besessenheit der Stalkerin, die ihrem Opfer den - erst am Ende erklärten - Spitznamen «Rentierbaby» gibt, zieht den Mann auch irgendwie an. Die Miniserie thematisiert, welche Folgen unverarbeitete Traumata haben können. Und sie zeigt, wie es kommen kann, dass Opfer von Kriminalität lange schweigen, sich niemandem anvertrauen. Das Erfolgsgeheimnis seiner Serie? Heutzutage versuchten alle, perfekt zu sein, sagt Gadd. «Es ist interessant, wenn jemand die Hände hochhält und sagt: Ich habe Fehler gemacht.»
Gadd scheint jedoch nicht davon ausgegangen zu sein, dass «Rentierbaby» ein Welterfolg und der Streaming-Überraschungshit dieses Frühlings werden würde. Zwar offenbart die Serie nicht, wer die realen Täter hinter den Figuren Martha Scott und Darrien O'Connor sind - doch genau das ruft jetzt einige Zuschauer auf den Plan, die sozusagen ermitteln wollen.
Auf den Spuren von «Squid Game»
Ins Visier geriet so schon ein bekannter britischer Fernsehautor, der Darrien-Darsteller Tom Goodman-Hill angeblich ähnlich sehe. Gadd betonte in Social Media jedoch rasch: «Bitte spekuliert nicht darüber, wer die realen Personen sein könnten. Darum geht es in
unserer Serie nicht.» Auch die angeblich «echte Martha» meldete sich zu Wort und erhob Anschuldigungen gegen Gadd, sie sei nun im Internet Opfer von Morddrohungen und werde wegen der Serie und seiner Ruhmsucht «gemobbt».
Im Streaming-Markt gibt es immer wieder unerwartete Erfolge wie «Baby Reindeer», insbesondere wenn Storys überraschend drastisch sind und dabei differenziert erzählt werden. Das wohl prominenteste Beispiel war 2021 die südkoreanische Netflix-Thrillerserie «Squid Game», die damals innerhalb von drei Monaten auf 265 Millionen Abrufe kam. (sda/dpa/spo)