12.04.2021

Michèle Binswanger

«Tschanun hatte panische Angst vor Verrat»

Tamedia-Journalistin Michèle Binswanger hat eine aufsehenerregende Reportage über den ehemaligen Zürcher Baupolizeichef Günther Tschanun geschrieben. Dieser erschoss am 16. April 1986 an seinem Arbeitsort vier Mitarbeiter und verletzte einen fünften lebensgefährlich.
Michèle Binswanger: «Tschanun hatte panische Angst vor Verrat»
Nach seiner Haftstrafe lebte Tschanun, hier auf einem Bild von 1990, unerkannt mit neuer Identität im Tessin. Dort verstarb er vor sechs Jahren bei einem Fahrradunfall. (Bild: Keystone/Str)
von Matthias Ackeret

Frau Binswanger, wie waren die Reaktionen auf den Auftakt Ihrer Tschanun-Serie in der Sonntagszeitung?
Sie waren sehr gut. Besonders freut mich auch zu sehen, wie viele Leute auch einen so langen Text gerne lesen. Von der älteren Generation haben die meisten eine Erinnerung an jenen Mittwoch, als es passierte. Die jüngeren Leser staunen einfach – nicht nur, dass so etwas mitten in Zürich geschehen konnte, sondern vor allem über die Sympathie, die der Mann bei gewissen Menschen weckte.

Haben sich auch Bekannte von ihm oder Angehörige von Opfern bei Ihnen gemeldet?
Ich hatte während der Recherche mit Bekannten Kontakt, die sich aber wegen der sensiblen Thematik nicht zitieren lassen wollten. Dasselbe gilt für die Angehörigen der Opfer. Aus Gründen des Persönlichkeitsschutz wollte ich auf sie nicht weiter eingehen.

Wie sind Sie eigentlich auf die ganze Geschichte gestossen?
Ich war 2019 auf einer Führung im Kriminalmuseum und es gab da ein Exponat zum Fall Tschanun. Dabei hiess es, er sei 2015 bei einem Fahrradunfall im Tessin verstorben. Ich ging dem Gerücht nach und fand tatsächlich die Polizeimeldung zum Unfall. Da verlangten wir per Öffentlichkeitsgesetz die Akten zu seiner Haft und zur Bewährungszeit.

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Wie konnte es gelingen, dass Tschanun nach seiner Haft im Tessin unbehelligt blieb?
Seine neue Identität war entscheidend. Als Letztes verfolgte die NZZ bei seiner Entlassung noch eine Spur ins Tessin, wurde aber abgewimmelt. Die Behörden waren sich bewusst, dass der Name Tschanun vergiftet war und seine einzige Chance auf Resozialisierung darin bestand, diese Identität ablegen zu können. Was für einen so von sich selbst eingenommenen Menschen wie Tschanun wohl nicht einfach war.

Wie viele Leute wussten von seinem neuen Leben?
Nur eine Handvoll Leute. Seine Bewährungshelferin ging äusserst sorgfältig vor. Sie organisierte ihm eine kleine IV-Rente, ausgezahlt über eine Stelle im Kanton Appenzell – weil damit der Kreis der Mitwisser klein gehalten werden konnte. Denn Tschanun hatte extreme Angst vor der Presse. Und man machte sich Sorgen, wie er reagieren könnte, wenn Journalisten ihn aufspüren würden – ob eventuell wieder mit einem Gewaltausbruch zu rechnen wäre.

Wurde er nie erkannt?
Er war ja ein sehr unscheinbarer Typ und es gab nur wenige Fotos von ihm. Nach seiner Entlassung nahm er im Tessin Italienisch-Kurse und berichtete, er habe dort einen 58-jährigen Zürcher getroffen, und der habe ihn nicht erkannt, obschon man in einem Sprachkurs doch einiges voneinander erfahre. Entscheidend war für ihn aber, dass er auch neue Papiere bekam. Bevor das der Fall war, nahm er als Trentinaglia an einer Kulturreise nach Ägypten teil. Als er sich im Hotel als Günther Tschanun ausweisen musste, wies man ihn weg. Er musste seine Identität der Gruppe preisgeben und in einem anderen Hotel übernachten.

Wie verbrachte er seinen Alltag?
Er lebte sehr bescheiden und zurückgezogen, konsumierte kaum Medien wie Radio oder Fernsehen. Er hatte im Tessin eine Freundin, gärtnerte viel, half Nachbarn im Garten oder bei der Weinernte, beschäftigte sich mit Botanik, Kultur und Religion. Ich glaube nicht, dass ihm langweilig war.

Hatte er alle Brücken zu seiner Vergangenheit, also zur Zeit vor seiner Tat, abgebrochen?
Ich denke schon. Sicher ist, dass er keinen Kontakt mehr zur Herkunftsfamilie hatte, und er hatte panische Angst vor Verrat und davor, dass seine Identität auffliegen könnte. Deshalb gehe ich davon aus, dass er alle Brücken zur Vergangenheit abgebrochen hatte.

«Ich habe nichts gefunden, was auf Selbstmord hingedeutet hätte»

Der Amoklauf von Günther Tschanun ist auch heute – 35 Jahre später – vielen Menschen immer noch in Erinnerung. Woran liegt das?
Weil es eine extreme Tat war, ein derart angepasster Typ, der derart ausrastet – oder besser, seine vermeintlichen Gegner gezielt hinrichtet. Tschanun war ja ein überheblicher, verbohrter Perfektionist und passiv aggressiv im Umgang. Ich denke, dass viele Schweizer sich mit diesem Persönlichkeitsprofil identifizieren konnten. Das dürfte auch einer der Gründe sein, warum er so viel Sympathien genoss. Sein Name wurde später ja auch zum Symbol für ähnliche Gewalttaten.

Wie lange haben Sie an der ganzen Serie gearbeitet?
Am längsten hat der juristische Prozess gedauert, bis wir die Akten hatten. Insgesamt habe ich dann vielleicht etwas mehr als einen Monat daran gearbeitet.

War sein Tod vor sechs Jahren wirklich ein Unfall oder am Ende ein Selbstmord?
Ich habe nichts gefunden, was auf Selbstmord hingedeutet hätte – es wäre auch eine sehr ungewöhnliche Art von Suizid. Ich glaube, es ging ihm in seinen letzten Jahren recht gut. Als Typ war er sehr ehrgeizig gewesen, doch ihm war klar, dass er sich nie wieder eine gesellschaftliche Position würde aufbauen können. Ich glaube, er akzeptierte seine neue, unscheinbare Existenz und fand am Ende wohl seinen Frieden.

 



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