Herr Toscani, Sie gelten als Enfant terrible der Werbefotografie. Wie stark nervt es Sie, dass Sie immer noch ständig nach Ihren Benetton-Skandalkampagnen gefragt werden?
Es ist langweilig! Benetton ist mir egal. Das ist über dreizehn Jahre her.
Trotzdem verdanken Sie der Benetton-Werbung Ihre Bekanntheit. 1995 haben Sie ein Buch veröffentlicht mit dem Titel «Die Werbung ist ein lächelndes Aas», eine Abrechnung mit der Werbewelt, für die Sie gleichzeitig arbeiteten. Wie passt das zusammen?
Ich bin nicht gegen Werbung an sich. Alles ist Werbung: Was ist die Sixtinische Kapelle? Werbung für die Kirche. Sie wirbt mit Gott, Jungfräulichkeit und Auferstehung und hat Künstler beauftragt, ihre Kampagnen zu gestalten. In meinem Buch schreibe ich gegen das System der Werbung. Ich bin gegen das schwachsinnige Marketing von heute.
Warum? Was ist an Marketingabteilungen so schlimm?
Marketing zerstört die Kreativität! Marketingleute sind meine grössten Feinde! Sie haben nur ihr Budget im Kopf, sonst rein gar nichts. Alle reden über Sicherheit. Dabei ist Kreativität totale Unsicherheit. Wenn ich etwas Kreatives beginne, weiss ich nicht, wie es ausgehen wird. Ich suche nicht nach Konsens, denn dieser führt zur Mittelmässigkeit. Kreativität bedeutet, unberührtes Terrain zu betreten. Ich würde mich schämen, wenn ich im Marketing arbeiten würde. Ich müsste meine Kinder wohl anlügen. Mein Erfolgsrezept: Du musst den Marketing-Fritzen zuhören und dann das Gegenteil machen. Das habe ich bei Benetton getan. Dann hast du Erfolg. Nur dann.
Es stimmt, mit Benetton ging es danach bergauf – rein kommerziell betrachtet jedenfalls. Sie hat man indes als zynisch bezeichnet, man hat Ihnen vorgeworfen, menschliches Leid zum Verkauf von Strickpullis einzusetzen. Was haben Ihre Kampagnen der Gesellschaft gebracht?
Jede Handlung ist politisch, alle meine Bilder haben einen soziopolitischen Inhalt. Ob sich deshalb etwas verändert, kann nicht ich entscheiden. Das liegt schlicht nicht in meiner Macht. Aber: Sie haben mich nach Werbung gefragt, die ich vor zwanzig Jahren gemacht habe. Also habe ich bei Ihnen ja anscheinend etwas bewirkt. Alle erinnern sich an meine Benetton-Kampagnen. Klar gibt es diese Missstände immer noch, aber das Bewusstsein ist ein anderes. Man spricht jetzt darüber. Das ist ja wohl besser, als zu schweigen.
Braucht es solche Provokationen, um die Menschheit auf Missstände aufmerksam zu machen?
Ja. Das Wort Provokation hat heute eine negative Konnotation. Das verstehe ich nicht. Denn provozieren meint die Möglichkeit, besser zu verstehen, seine Meinung zu ändern, toleranter zu werden. Egal, ob ich ins Kino gehe, ein Bild anschaue oder ein Buch lese: Ich hoffe stets, provoziert zu werden. Kunst muss Provokation sein.
Heute wäre ich wahrscheinlich nicht einmal mehr schockiert über ein Nacktfoto von Papst Franziskus beim Umgraben der Vatikanischen Gärten. Womit kann man die Menschen heute überhaupt noch aufrütteln?
Die Themen Sex und Tod sind noch immer voller guter Tabus, die uns Angst machen. Und warum? Es sind Probleme, die wir noch nicht gelöst haben. Themen, die viel Raum für Provokation lassen.
Sie sagen, dass die Werbung von heute langweilig sei. Wenn Sie den Werbern einen Rat geben könnten, welcher wäre das?
Keine Ahnung. Ich habe nie in einer Werbeagentur gearbeitet und keine Werbeagentur wollte je mit mir zusammenarbeiten. Auch bei Benetton habe ich direkt mit dem Chef Luciano Benetton zusammengearbeitet. Werbeagenturen interessieren sich nicht für Qualität, sondern für das Budget. Sie wollen gar nicht frei und kreativ arbeiten!
Wenn Sie dieser Meinung sind, zeige ich Ihnen drei Beispiele von Schweizer Kampagnen, die im letzten Jahr Preise gewonnen haben oder heftig diskutiert worden sind. Was halten Sie davon? Beginnen wir mit der Aidskampagne von Rod.
Es ist ein hässliches Foto. Einfach unästhetisch, was soll denn das? Warum muss es so gewalttätig sein? Dieser Rücken, ekelhaft!
Nun die Kampagne von Jung von Matt für Pro Infirmis. Was halten Sie davon?
Das ist sehr gutmenschlich und versöhnlich, sehr perfekt. Es ist ja kein Problem, dass es Geschäfte gibt, die solche Schaufensterpuppen ausstellen. Die Kampagne ist in meinen Augen aber rassistisch. Auch ich stellte das konventionelle Schönheitsideal infrage, als ich einen Benetton-Katalog mit Kindern realisierte, die das Downsyndrom hatten. Der Unterschied war aber, dass nicht ich die Idee dazu hatte und die Personen ausstellen wollte. Es waren die Volontäre des Spitals, die mich für das Projekt anfragten.
Und zu guter Letzt der Werbespot für Denner mit dem toskanischen Winzer Giacomo von ViznerBorel.
Schön, sehr romantisch. Aber das ist nicht das heutige Italien.
Wie würden Sie das heutige Italien in einem Foto festhalten?
Silvio Berlusconi in Handschellen.
Woher kommt die Inspiration für Ihre Fotoprojekte?
Ich habe keine Ideen, nicht mal Inspiration. Ich bin ein Situationist. Ich will nicht beeinflusst werden von anderen, ich will nicht konditioniert werden, meine Fantasie gehört mir. Ich höre zwar Radio und lese Zeitung, sehe aber nicht fern. Gerade weil es unsere Vorstellungskraft und Meinung steuert.
Aber Sie müssen doch irgendwie zu Ihren Ideen kommen. Nehmen wir ein konkretes Beispiel: Wie kamen Sie auf die Idee, für Benetton die blutdurchtränkte Kleidung eines bosnischen Soldaten abzulichten?
Das war eigentlich nicht meine Idee. Ein Mädchen aus Sarajevo hat mir geschrieben, dass es einen Krieg gebe in Jugoslawien und Europa die Augen davor verschliesse und nichts unternehme – obwohl wir Nachbarn seien! Sie fragte, ob ich nicht ein Bild machen könnte. Sie sehe es als einzige Möglichkeit, dass der Krieg überhaupt thematisiert werde. Das hat mich zum Nachdenken gebracht: Es gibt einen Krieg, und die vielen Toten interessieren uns nicht. Also habe ich beim Roten Kreuz in Kroatien nachgefragt, ob sie mir die Kleider eines verstorbenen Soldaten schicken würden.
Ein anderes Projekt, das sich ebenfalls mit dem Tod auseinandersetzte und schliesslich zum Bruch mit Benetton führte, war der Todestrakt in den USA.
Ja. Da reinzukommen war sehr schwierig. Amerikanische Staatsanwälte, die gegen die Todesstrafe sind, haben mir geholfen. Nicht in allen Staaten durfte ich fotografieren.
Wie geht es Ihnen bei solchen Shootings? Was fühlt man da?
Ich versuche, mich bei solchen Fotos nicht von meinen Gefühlen leiten zu lassen und eine gewisse Distanz zu wahren. Aber die Todesstrafe ist natürlich eine mittelalterliche Sache. Es ist furchtbar, entsetzlich! Die Bilder sind ein Zeugnis unseres menschlichen und gesellschaftlichen Zustands. Und genau das muss ein gutes Foto sein.
Heute kann jeder mit seinem Handy ein Foto knipsen und dieses dann so bearbeiten, dass es einigermassen gut aussieht. Was bedeutet das für wirklich talentierte Fotografen?
Es kann auch jeder schreiben. Das macht ihn aber noch lange nicht zu einem Schriftsteller. Heute ist es einfach, ein Foto zu machen. Fotografie ist die einfachste Kunst überhaupt. Darum wollen plötzlich alle Fotografen sein.
Interview: Seraina Etter/Bilder: Oliviero Toscani u.a.
Zur Person:
Oliviero Toscani kam 1942 in Mailand als Sohn eines Pressefotografen zur Welt. Seine Bekanntheit erlangte Toscani mit Werbekampagnen für Benetton, die er von 1982 bis 2000 entwarf. Der Italiener möchte mit seinen Bildern Denk- und Diskussionsprozesse in Gang setzen. Immer wieder brach er Tabus. Toscanis Kampagne mit Fotos von zum Tode verurteilten US-Häftlingen führte in den USA zum Boykott von Benetton. Viele Länden mussten schliessen. Daraufhin ist Luciano Benetton eingeknickt und hat sich öffentlich entschuldigt und von Toscani distanziert. Seine letzte Schockkampagne widmete Toscani dem Kampf gegen Magersucht. Für das italienische Label Nolita fotografierte er das sterbende Magermodel Isabelle Caro. Heute lebt der 72-Jährige in seinem Anwesen in der Toskana. Er ist ein erfolgreicher Züchter von Quarterhorse- und Palomino-Pferden und baut in Casale Marittimo eigenen Wein an.