30.01.2019

Silvia Binggeli

«Die Marke hat sich immer wieder neu erfunden»

Am Dienstag hat Tamedia publik gemacht, dass bei der «Annabelle» eine Entlassungswelle ansteht. Die Noch-Chefredaktorin spricht im Interview über den Kündigungsprozess, die neue Ausrichtung der Zeitschrift und verrät, was sie sich von ihrer Nachfolge wünscht.
Silvia Binggeli: «Die Marke hat sich immer wieder neu erfunden»
«Wir werden nicht mehr dieselbe Eigenleistung bringen können», erklärt die scheidende «Annabelle»-Chefredaktorin Silvia Binggeli. (Bild: zVg.)
von Anna Sterchi

Frau Binggeli, es ist ausserordentlich, dass Sie diese schwierige Umstrukturierung mitgestalten und dann Ihre Funktion abgeben (persoenlich.com berichtete). Wie kommt es dazu?
Ich bin seit 20 Jahren bei der «Annabelle», habe die Entwicklung im Lesermarkt, insbesondere auch die negative Entwicklung im Werbemarkt, hautnah miterlebt. Als Chefredaktorin war ich mitverantwortlich für die Erarbeitung von möglichen Lösungen. Wir haben dabei viele verschiedene Szenarien geprüft. Auch wenn die Konsequenzen nun massiv sind und mich persönlich betroffen machen: Die Einführung des neuen Redaktionsmodells ist in diesem extrem schwierigen Umfeld der beste Weg, um den Titel zu erhalten. Mein Team, das seit Jahren viel Engagement und Professionalität in jede Ausgabe steckt, liegt mir am Herzen. Deshalb habe ich mich entschieden, die Einführung des neuen Redaktionsmodells zu begleiten.

Was wird in den kommenden Monaten die grösste Herausforderung für Sie sein?
Erst einmal will ich die Kolleginnen und Kollegen durch den schwierigen Prozess der Konsultation und die Entlassungsphase begleiten. Danach wird es zusammen mit den Ressortleitern darum gehen, im neuen Team die neuen Prozesse einzuführen, Partner und freie Mitarbeitende für das neue Redaktionssystem zu finden.

«Wir müssen das Konsultationsverfahren abwarten, bis wir wissen, wer von einer Kündigung betroffen ist»

Wie viele Mitarbeitende werden in der Print- und Onlineredaktion entlassen?
Wir müssen nun erst mal die Ergebnisse der Konsultation abwarten, gehen aber derzeit davon aus, dass wir leider 14 Mitarbeitenden kündigen müssen.

Nach welchen Kriterien entscheiden Sie, wer gehen muss?
Das neue Redaktionsmodell wurde vor der Kommunikation eingehend studiert, vorbereitet und analysiert. Entsprechend wurden auch Profile und teils erweiterte neue Aufgaben definiert. Wir werden darauf achten, die bestehenden Kompetenzen bestmöglichst zu nutzen. Aber wir müssen erst die Ergebnisse des Konsultationsverfahrens abwarten, bis wir definitiv wissen, wer von einer Kündigung betroffen ist.

Wie haben Sie Ihre Redaktionen über den Umstrukturierungsentscheid informiert?
Die Redaktion wurde gestern morgen vom CEO Christoph Tonini, vom Verantwortlichen des Bereichs Bezahlmedien, Serge Reymond, und mir informiert. Im Anschluss gab es persönliche Gespräche. Natürlich war es ein sehr schwieriger Tag für uns alle. Da gab es keinen normalen Betrieb.

«Zusammen mit einem grossartigen Team konnte ich die Tradition des Geschichtenerzählens ausbauen»

Seit 1999 sind Sie bei der «Annabelle». Wie hat sich die Zeitschrift in dieser Zeitspanne verändert?
Ja, ich bin mein halbes Leben bei «Annabelle» und habe die Arbeit für die Zeitschrift stets als Geschenk, als Privileg erlebt. Andererseits: «Annabelle» gibt es seit achtzig Jahren. Die Marke hat Höhen und Tiefen erlebt, sich immer wieder neu erfunden und sich dem Zeitgeist angepasst. Wichtig war dabei sicher immer das Finanzierungsmodell, das hauptsächlich aus Werbung besteht. Dieses hat sich in den letzten Jahren stark verändert und uns unter Druck gesetzt. Auch das Leseverhalten hat sich verändert. Die Digitalisierung fordert neue Formen, neue Gefässe. Was aber sicher geblieben ist: Das Bedürfnis einer treuen Leserschaft nach guten und relevanten Geschichten.

Sie haben die Publikation entscheidend mitgeprägt. Auf welche Errungenschaft sind Sie besonders stolz?
Dass ich die Marke in einem sich stark verändernden Leser- und Werbemarkt erfolgreich neu positionieren konnte. Mir war es wichtig, das Magazin mit geschärftem Profil nah- und erlebbar zu machen. Zusammen mit einem grossartigen Team konnte ich die Tradition des Geschichtenerzählens im Reportage- und im Lifestyle-Teil der Marke ausbauen sowie annabelle.ch neu lancieren. Mit der «Annabelle»-Soirée haben wir eine zweimal jährlich stattfindende Podiumsdiskussion zu gesellschaftspolitischen Themen geschaffen, die jedes Mal innert Tagen ausverkauft ist. Und ganz besonders stolz bin ich auf die Serie «Schweizer Macherinnen», die wir zum 80-jährigen Bestehen des Titels im letzten Jahr präsentiert haben – eine Plattform für herausragende Schweizerinnen, die anpacken und uns mitreissen.

«Sicher: Es gibt immer Luft nach oben»

Etliche Themen der «Annabelle» wie Beauty, Mode, Gourmet oder Reisen werden heutzutage auch rege auf Social Media ausgetauscht. Stösst eine Zeitschrift wie Ihre in Zeiten von Instagram & Co. noch auf eine genügend grosse Nachfrage?
Die Entwicklung der Leserzahlen ist in den vergangenen Jahren auch bei uns leicht rückläufig, allerdings konnten wir die Community auch über unsere Website ausbauen. Mittlerweile erreichen wir mit Print, Online und den Social-Media-Kanälen rund 400‘000 Leserinnen und Leser. Die Einzigartigkeit der «Annabelle» liegt im Mix zwischen hintergründigen Reportagen und Lifestyle. Das findet so auf Instagram nicht statt.

«Annabelle, ach Annabelle. Du bist so herrlich unkonventionell», sang Reinhard Mey 1972 in seinem berühmten Song. Hand aufs Herz, hätten Sie bei der Themenwahl mehr Mut an den Tag legen sollen?
Ich könnte jetzt Beispiele aufzeigen, warum «Annabelle» der Inbegriff einer unkonventionellen Frauenzeitschrift ist. Aber ganz unbescheiden Hand aufs Herz: Das erklärt die Zeitschrift, wenn man durch ihren Mix blättert. Sicher: Es gibt immer Luft nach oben, nicht jede Geschichte, nicht jede Ausgabe gelingt. Aber unsere grösste Herausforderung ist nicht fehlender Mut. Sondern einbrechende Werbeeinnahmen.

Hat die «Annabelle» die Chance einer Paywall verpasst?
Nein. Sie haben die Digitalisierung, die Social Media erwähnt. Der Lifestylebereich wird von Influencern weltweit gratis bedient. Auf diese Konkurrenz soll und kann sich «Annabelle» nicht einlassen. Online ist für uns der Kanal zu einem neuem Zielpublikum. Ob sich dabei ganz bestimmte Inhalte oder Dienstleistungen dereinst hinter eine Paywall setzen lassen, wird die Zukunft zeigen. Bis anhin gibt es dafür weltweit noch kein erfolgreiches Konzept.

«Der ‹Sound› der Zeitschrift soll möglichst beibehalten werden»

Der Onlinebereich von «Annabelle» hat eine jüngere, preisbewusstere Zielgruppe als die Zeitschrift. Wie gehen Sie damit bei der Zusammenlegung der Redaktionen um?
Die Redaktion ist heterogen. Das wird auch in Zukunft so sein. Journalisten müssen heute sowohl im Print wie Online affin sein. Natürlich gibt es solche, die stärker sind in langen Print-Reportagen und andere die Online-Storytelling besser beherrschen. Der neue Pool von Journalistinnen und Journalisten wird aus beiden bestehen.

«Annabelle» wird künftig vermehrt Leistungen von externen Lieferanten und freischaffenden Journalisten beziehen. Wie kann die Zeitschrift dabei die eigene Handschrift bewahren?
Wie gesagt: Die «Annabelle» wird wegen ihrem Mix aus Reportagen und Lifestyle von ihren Leserinnen und Lesern geschätzt. An diesem Konzept halten wir auch mit der Umstellung fest. Der «Sound» der Zeitschrift soll möglichst beibehalten werden. Aber selbstverständlich wird die «Annabelle» mit neuem Redaktionsmodell nicht dieselbe sein. Sonst hätten wir bis jetzt etwas komplett falsch gemacht. Wir werden nicht mehr dieselbe Eigenleistung bringen können. Andererseits arbeiten wir auch jetzt schon mit Freien zusammen. Wir werden das verstärken, neue Partnerschaften suchen, uns neue Formen und Rubriken ausdenken und noch stärker Prioritäten setzen und verzichten müssen. Nur so besteht die Chance, ein neues Kapitel zu schreiben.

Was ist Ihr wichtigstes Anliegen für Ihre Nachfolgerin beziehungsweise Ihren Nachfolger?
Leidenschaft und Respekt für die Marke. Die Geduld, sich die Kompetenz und Qualität des Titels und des Teams anzuschauen, und dann entschlossen eine eigene Handschrift aufzusetzen.


Das Interview wurde schriftlich geführt.

 

 



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Kommentare

  • Pascale Lehmann, 30.01.2019 04:53 Uhr
    Die Interviews werden schriftlich geführt, von Freien, die weniger kosten. Arme Annabelle, nuna auch das noch.
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