Herr Strehle, warum braucht Tamedia ein eigenes Qualitätsranking?
Es handelt sich nicht um ein Ranking, sondern wir schauen die Titel vertieft und einzeln an. Ziel ist, nicht alle Medien über einen Kamm zu scheren, sondern zu prüfen, ob sie die handwerklichen Regeln einhalten und ihrem eigenen Anspruch gerecht werden. Das ist mehr als nur «Daumen rauf» oder «Daumen runter», wie oft an der Blattkritik.
Aber es gibt ja das Medienqualitätsranking oder das Jahrbuch Qualität im Journalismus.
Wir setzen einen anderen Fokus. Unsere Analyse stützt sich auf einen klaren Kriterienkatalog, der sich auf das «Handbuch Qualität in den Medien» bezieht (Anm. d. Red.: siehe Bilder unten), das wir vor rund einem halben Jahr intern lanciert haben. An einem Stichtag bei den Newsmedien und in mehreren Ausgaben bei den Zeitschriften analysierten wir zusammen mit externen Experten das Angebot sehr genau. Diese Art von Monitoring gibt es in der Branche bisher nicht.
Einige Wissenschaftler scheinen ständig im Clinch mit Tamedia. Sie kritisieren gewisse Produkte, allen voran «20 Minuten». Können Sie diese Kritiker mundtot machen, in dem Sie sie ins Boot holen?
Nein, darum geht es nicht. Die schärfsten Kritiker sind schliesslich die interessantesten. Die Chefredaktoren unserer Titel konnten mitbestimmen, wen sie als Kritiker engagieren wollen. Dabei hatten sie keine Vorgaben, einzig durfte kein Abhängigkeits- oder Freundschaftsverhältnis bestehen.
Wer wirkte mit?
Mark Eisenegger vom Forschungsinstitut für Öffentlichkeit und Gesellschaft etwa analysierte «Tages-Anzeiger», «SonntagsZeitung» und «Bund» mit. Colin Porlezza von der Universität Zürich hat die «Schweizer Familie» untersucht und dabei genau auf die Trennung von Werbung und Redaktion geachtet. Er ist der Ansicht, dass auch beim flüchtigen Lesen jederzeit klar sein muss, was redaktioneller Teil ist und was Werbung.
Und wie hat «20 Minuten» abgeschnitten?
Wir haben «20 Minuten» im Unterschied zu externen Analysen an den handwerklichen Regeln und den von der Chefredaktion gewählten Mehrwertkriterien gemessen. Bei dieser Analyse war Matthias Künzler von der HTW Chur als Experte mit dabei. Sein berechtigtes Anliegen war etwa, dass ein Newsmedium nicht nur Unterhaltung bieten sollte, sondern auch gesellschaftlich relevante Themen aufgreifen muss. Am untersuchten Stichtag hatte «20 Minunten» neben softerem Stoff wie Sport, People oder Unterhaltung sieben politikrelevante Themen im Blatt, das scheint mir recht gut. Der Experte stellte darüberhinaus aber auch zur Debatte, ob diese Beiträge neben der Information genügend einordnende Elemente hatten.
Was hat Künzler sonst noch moniert bei «20 Minuten»?
Wir diskutierten, wie auch bei anderen Medien, ob die kritische Distanz zur Quelle jederzeit gewahrt wurde, gegenüber realem oder viralem Marketing etwa. Und dass für den Leser transparent sein muss, wenn ein Medium bei einem publizierten Thema oder Event gleichzeitig Sponsor ist. Insgesamt wurde «20 Minuten» auch in der Wertung von Matthias Künzler aber gut beurteilt.
Die kritische Distanz gegenüber Viral-Marketing sei nicht gegeben. Was ist damit gemeint?
Es ging etwa um einen Beitrag mit Quelle BBC, wonach Volvo für seine Autos im australischen Markt nun auch einen Detektor für Kängurus entwickle – statt wie bislang nur für Elche. Eine Google-Recherche zeigte, dass diese Story vor Monaten schon aufgetaucht war. Ähnlich ging es mir später auch bei der Meldung in vielen Medien, wonach Apple am Erscheinungstag in einzelnen Ländern nicht genügend iPhones X liefern könne. Die Käufer mussten sich folglich glücklich schätzen, wenn sie das neue Modell erwerben konnten – das halte ich bei einem gut planenden international tätigen Unternehmen für Marketing.
Daneben ist die Trennung von Werbung und Journalismus ein wesentlicher Punkt im Monitoring. Was haben Sie dazu herausgefunden?
Bei einzelnen Beiträgen war uns nicht gänzlich klar, ob das nun redaktioneller Inhalt, Werbung oder eine Hybridform ist. Die Unterscheidung muss für die Leser in jedem Fall klar sein, auch durch eine unterschiedliche grafische Form.
Meinen Sie nur gesponserte Inhalte? Oder sollte auch klarer deklariert werden, wenn ein Journalist eine Story von einem PR-Beauftragen gesteckt erhält?
Gegen Themen, die ein Redaktor aus der PR gesteckt erhält, habe ich nichts, wenn er sie unabhängig angeht, die Fakten gegencheckt und eine erkennbare Eigenleistung dazu kommt. Problematisch finde ich, wenn der PR-Ausgangspunkt journalistisch nicht hinterfragt wird und die Story vollständig durchdringt.
Bei dem grossen Umbau in den letzten Monaten könnte man meinen, der Tamedia-Konzern interessiere sich nicht mehr so stark für seine publizistischen Produkte. Was für einen Eindruck haben Sie diesbezüglich?
Es ist sicher ein positives Zeichen, wenn das Unternehmen bereit ist, eine Projektstelle für dieses Qualitätsprojekt zu finanzieren und unabhängige Experten beizuziehen. Meines Wissens macht das kein anderes Schweizer Medienhaus in vergleichbarer Weise. Auch für die Ressourcen-Diskussion scheint es mir interessant zu wissen, ob die Qualität in den letzten fünf oder zehn Jahren tatsächlich abgenommen hat, wie die Kritiker sagen.
Das können Sie ja hier nicht untersuchen.
Nein, aber wir sehen aktuell die Wertschöpfung der einzelnen Titel. Ich finde, sie hat insgesamt ein hohes Niveau. Es wäre interessant, sie mit früher zu vergleichen.
Mit den ganzen Sparbemühungen und Reorganisationen: Bleibt den Redaktionen genügend Zeit, sich Gedanken um Qualität zu machen?
Es müsste dafür genug Zeit vorhanden sein, finden wir! Genau wie eine Redaktion Luft braucht, um sich neben schnellen Texten mit einem Thema vertiefter auseinanderzusetzen, braucht sie Raum, um über Journalismus und Qualität zu diskutieren. Deshalb war es schade, dass in einzelnen Redaktionen angesichts der dominierenden Spar- und Reorganisationsdebatte keine Diskussion über Qualität möglich war.
Welche Redaktionen wollten nicht mitmachen?
Bei einigen Westschweizer Titeln war es gegen Ende Jahr schwierig, weil Tamedia für die Umbaupläne dort stark kritisiert wurde. Ähnlich war es bei der «Berner Zeitung». Wir haben unseren Befund dort einzig mit den Chefredaktionen diskutiert, für eine breitere Diskussion fehlte die Bereitschaft auf der Redaktion. Die wäre Voraussetzung, wir wollen nichts von oben aufzwingen.
Wie man hört, sind durch die Tamedia-Redaktion nun plötzlich zu viele Leute für weniger Arbeit da, die nun um Themen und Dossiers kämpfen. Zudem haben offenbar viele Angst, dass es doch zu Kündigungen kommen wird.
Es scheint mit der neuen Organisation in der Tat in einzelnen Mantelressorts mehr Raum zu geben. Das ist erst mal positiv, denn dann können sie sich vermehrt um längere Recherchen und andere Formen des Storytellings kümmern, ausserdem Themen vertieft angehen. Aber welche Auswirkungen die neue Organisation auf die Qualität und Differenzierung der einzelnen Medien bedeutet, weiss ich noch nicht – das soll Teil des diesjährigen Monitorings sein.
Sprechen wir nochmals über Inhaltliches aus Ihrem Bericht. «Anonyme Quellen dürfen nicht zum Mittel des Rufmordes werden», heisst es darin. Was ist damit gemeint?
Ich bin der Meinung, dass die anonyme Quelle im deutschsprachigen Raum zu häufig benutzt wird. Damit kann man auch Akteure diffamieren. Das ist folglich ein gefährliches Instrument, das dazu verleiten kann, eine These ohne Transparenz der Quelle zu stützen. Wir wollten das deshalb im Qualitätshandbuch neu regeln.
Wie?
Laut dem Handbuch musste man die anonyme Quelle gegenüber der Leserschaft begründen und in wichtigen Fällen von der Chefredaktion bewilligen lassen. Das hat sich im Zeitdruck des Redaktionsalltags als nicht praktikabel erwiesen. Neu wird das Handbuch in zweiter Auflage die anonyme Quelle für Fakten liberalisieren, denn dort gilt ohnehin das Prinzip des Double-Checks. Bei Wertungen wollen wir hingegen keine anonyme Quellen. Werten sollen nur identifizierbare und damit für den Leser einzuordnende Quellen. Und natürlich die Journalisten und Journalistinnen selber in ihren Meinungs- oder Autorenbeiträgen.
Interessant ist, dass Sie eine Stakeholder-Analyse gemacht haben.
Wir haben dieses Instrument in wenigen Fällen gezielt geprobt, insbesondere dort, wo jemand in einem Artikel kritisiert wurde. Mit Kenntnis der Chefredaktion und der zuständigen Journalisten schrieben wir einzelne Objekte der Berichterstattung an und befragten sie zu ihrer Sicht des Beitrags.
Was fanden Sie dabei heraus?
Ein Befragter monierte, er hätte zu wenig Zeit für die Antwort gehabt, obwohl der unmittelbare Aktualitätsdruck gefehlt habe. Eine andere Befragte empfand Kontext und Absicht des Artikels bei den Fragen als unklar. Vereinzelt wurde ein Beitrag auch als tendenziös empfunden. Insgesamt ergaben sich aber keine Hinweise auf falsche Fakten oder krass verletzte Handwerksregeln.
Res Strehle war bis Ende 2015 Chefredaktor vom «Tages-Anzeiger». Seit seiner Pensionierung arbeitet er unter anderem als Projektleiter Qualitätsmonitoring bei Tamedia. Daneben ist er bei der Journalistenschule MAZ engagiert, bei den Solothurner Filmtagen und neu auch bei Reporter ohne Grenzen.