16.08.2022

NZZ

«Die Willkür ist grösser geworden»

Markus Ackeret berichtet für die Neue Zürcher Zeitung aus Russland. Seit dem Kriegsausbruch sind das Leben und die Tätigkeit immer schwieriger geworden. Ein Gespräch über westliche Sanktionen und die belastende Arbeit.
NZZ: «Die Willkür ist grösser geworden»
NZZ-Korrespondent Markus Ackeret am Baikalsee in Posolskoje. (Bild: zVg)
von Matthias Ackeret

Herr Ackeret, der Krieg mit der Ukraine dauert schon seit Monaten an. Nimmt man dies in Moskau überhaupt so wahr?
Nein, auf den ersten Blick ist in Moskau alles wie vor dem Ausbruch des Krieges, der hier offiziell nur als «militärische Spezialoperation» bezeichnet werden darf. Es gibt keine Hinweise auf den Krieg.

Diskutieren die Leute über das Kampfgeschehen?
Das Kampfgeschehen selbst war von Anfang an nur selten Gegenstand von Diskussionen, jedenfalls unter gewöhnlichen Bürgern. Und wenn, dann nur sehr oberflächlich und entlang der von der staatlichen Propaganda im Fernsehen vorgegebenen Narrative. Mittlerweile würde ich schon fast sagen, das Thema sei tabu. Es wird verdrängt. Selbst wenn es in Diskussionen direkt um Folgen dieses Kriegsausbruchs geht, etwa die Reisemöglichkeiten ins Ausland oder fehlende Importwaren in den Geschäften, wird der Krieg ausgeklammert. Man will damit nichts zu tun haben. Man verweigert sich der Realität. Und es ist auch ein heikles Thema: Die Angst, etwas «Falsches» zu sagen und denunziert zu werden, ist zumindest ausserhalb ganz privater Räume gross. Unter Freunden und Bekannten sieht es, je nach Interesse, anders aus.

Spürt man im Alltag bereits die Auswirkungen der westlichen Sanktionen?
Ja, die sind zu spüren, aber von einem Kollaps der Wirtschaft und des Finanzsystems ist Russland sehr weit entfernt. Viele ausländische Marken haben sich zurückgezogen. Ihre Läden in den Einkaufszentren sind dunkel. Manche entscheiden dieser Tage über den definitiven Rückzug aus Russland, auch wegen erschwerter Logistik. Auch sonst sind manche Importprodukte verschwunden oder viel teurer geworden. Aber die Regale in den Lebensmittelgeschäften sind voll. Autoersatzteile sind schwer zu bekommen und um ein Vielfaches im Preis gestiegen. Der Automarkt ist praktisch zum Erliegen gekommen. Reisen ins Ausland sind kompliziert und sehr teuer geworden, es gibt wegen der Sperrung des europäischen Luftraums nur noch wenige Nadelöhre, über die das Land verlassen werden kann. Eine Flugreise in die Schweiz ist mit Umsteigen etwa in Belgrad oder Istanbul verbunden, fünfmal teurer als vor dem 24. Februar und dauert statt dreieinhalb Stunden neun bis zwölf Stunden. Schliesslich das Geld: Ausländische Bank- und Kreditkarten funktionieren nicht mehr, einzelne Banken sind vom internationalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen, und der Rubelkurs ist volatil und je nach Operation sehr unterschiedlich. Man verliert rasch viel Geld durch die ungünstigen Wechselkurse und Einschränkungen in der Verfügbarkeit von Fremdwährungen. Die Euro auf meinem Euro-Konto bei einer russischen Bank kann ich beispielsweise derzeit nur in Rubel zum Tageskurs der Zentralbank abheben. In einer Wechselstube wäre der Kurs besser.

«Die Leute haben Angst vor Repressalien»

Wie gestaltet sich momentan Ihre Arbeit als Journalist?
Die Arbeit ist belastender und mühsamer geworden. Zum einen gibt es neue Zensurgesetze, die es heikler machen, über die «Spezialoperation» und die Armee zu berichten. Die Willkür ist grösser geworden. Zum anderen gibt es gegenüber westlichen Journalisten und überhaupt wegen des Tabus, das über dem Thema Krieg und der Politik generell liegt, noch mehr Misstrauen. Die Leute haben Angst vor Repressalien, und als Journalist muss man sich mehr als früher Gedanken darüber machen, wie man seine Gesprächspartner schützen kann.

Gibt es von staatlicher Seite Beeinflussungsversuche?
Direkte Beeinflussung gibt es nicht. Zuweilen wird die Frage gestellt, wie man sich zur «Spezialoperation» verhält. Insgesamt wird durch neue Gesetze und Willkür eine gewisse Einschüchterung versucht.

Das Wort «Krieg» ist offiziell verboten. Wie gehen Sie damit um?
Vom Verbot sind einheimische, auf Russisch publizierende Journalisten direkter betroffen. Ich schreibe nicht direkt über das Kampfgeschehen in der Ukraine.

«Ich sehe wenig Grund für Zuversicht»

Wie schätzen Sie selbst die Kriegslage ein, wird der Krieg noch lange andauern?
Ich sehe wenig Grund für Zuversicht. Die russische Führung gibt sich siegesgewiss, und es ist klar, dass sie jedes Ergebnis der Öffentlichkeit als «Sieg» zu verkaufen versuchen wird. Auch wenn sich die Truppen aus der Umgebung von Kiew, Tschernihiw und Charkiw zurückziehen mussten und die Geländegewinne im Donbass nur mühsam erfolgen, hat Russland bereits beträchtliche Territorien unter seine Kontrolle gebracht und macht nicht den Eindruck, als würde es diese je wieder hergeben. Deshalb gibt es für Russland derzeit keinen Grund, am Vorgehen etwas zu ändern. Entsprechend gibt es kaum Anreiz für ernsthafte Verhandlungen. Und wenn, dann brächte das wohl nur eine vorübergehende Ruhe auf dem Kriegsschauplatz. Weder würde Russland mittel- bis längerfristig vom Ziel, die ganze Ukraine zumindest indirekt unter Kontrolle zu bringen (um deren Politik bestimmen zu können), abrücken, noch würde sich eine territorial und damit auch wirtschaftlich-demografisch geschwächte Ukraine auf Dauer mit dem Verlust grosser Gebiete im Süden und Osten abfinden wollen. Zu glauben, es lasse sich bald eine einigermassen dauerhafte Friedenslösung finden, halte ich für eine Illusion. Auch der Westen braucht deshalb einen langen Atem.

Wie gross ist die Gefahr, dass noch andere Länder hineingezogen werden oder dass es zu einem Nuklearschlag kommt?
Das ist schwer zu prognostizieren. Manches, was vor dem 24. Februar als wenig wahrscheinlich gegolten hatte, weil es Russland so sehr schadet wie anderen Ländern, ist durch den durch nichts zu rechtfertigenden Angriff auf die Ukraine plötzlich in den Bereich des Möglichen geraten. Das gilt sowohl für die direkte Betroffenheit von Nato-Staaten als auch den Einsatz von Atomwaffen.



Markus Ackeret (1978) lebt und arbeitet als Korrespondent der Neuen Zürcher Zeitung seit Anfang 2018 erneut in Moskau, wo er bereits von 2007 bis 2011 für die NZZ stationiert war. Dazwischen war er als NZZ-Korrespondent in Peking und Berlin tätig. Er studierte in Zürich und Frankfurt an der Oder osteuropäische Geschichte und russische Literaturwissenschaft. Seine journalistische Karriere startete er 1996 bei der Zürichsee-Zeitung in Stäfa. Er ist verheiratet und Vater einer sechsjährigen Tochter. Markus Ackeret ist verwandt mit dem Interviewer.

Das ausführliche Interview ist in der aktuellen Printausgabe von «persönlich» erschienen.

 



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