Mitte Mai erscheint im Magazin von Tamedia eine eindrückliche Geschichte über die Rettung einer ruandischen Familie mit Schweizer Bezug während des Genozids. Autorin ist Barbara Achermann, stellvertretende Chefredaktorin der Publikation. Zeitgleich kommt der Artikel auch in Le Matin Dimanche – die Sonntagszeitung von Tamedia in der Romandie. Layout und Abbildungen sind verschieden. Der Text hingegen ist der Gleiche. Nirgends wird aber darauf hingewiesen, dass es sich um eine Übersetzung handelt.
Auch bei Blick und Watson, die beide über eine Redaktion in der Romandie verfügen, werden täglich Artikel von einer Sprache in die andere übernommen. Die Reportage von Amit Julliard von Blick Romandie aus einem Männlichkeitstraining ist kürzlich auf Deutsch erschienen. Auch da ohne Hinweis.
Für Medienhäuser ist das Übersetzen von Artikeln interessant, denn es erhöht mit geringem Aufwand die Reichweite einer Recherche. Höhere Reichweite heisst höhere Werbeeinnahmen. Wenn Schweizer Medien Artikel von bekannten ausländischen Autoren publizieren, wird der Name der übersetzenden Person oft genannt. Warum also nicht auch bei Schweizer Journalisten?
DeepL und Übersetzungsteams
Liegt das Fehlen der Kennzeichnung daran, dass die Übersetzungen nur noch durch elektronische Tools getätigt werden? «Automatische Übersetzungen würden wir niemals direkt unserer Leserschaft anbieten», schreibt Tamedia auf Anfrage von persoenlich.com.
Tamedia beschäftige in der Romandie ein Übersetzungsteam. «Zur Grundlage dienen Übersetzungstools, die zunächst die Texte übertragen. Anschliessend werden diese von unseren Mitarbeitenden weiterbearbeitet und in eine Form gebracht, die in der jeweiligen Sprachregion optimal funktioniert. Die menschliche Intervention bleibt dabei unverzichtbar.» Der Name der übersetzenden Person wird immerhin in den Metadaten erwähnt. Es ermöglicht ihr, Copyrights-Beiträge von ProLitteris zu erhalten.
Auch die französischsprachige Redaktion von Watson arbeitet mit Übersetzerinnen und Übersetzern zusammen. Ihre Namen werden in der Regel am Ende des übersetzten Artikels gekennzeichnet. In der Deutschschweiz übersetzen «ausgewählte Mitglieder der Redaktion» ins Deutsche, schreibt die Medienstelle von CH Media. Die entsprechenden Texte werden mit dem Zusatz «watson.ch/fr» gekennzeichnet. In beiden Fällen kommen digitale Tools zum Einsatz. «In jedem Fall werden die übersetzten Artikel von einem Journalisten oder einer Journalistin der adaptierenden Redaktion gegengelesen», schreibt Watson.
Bei Blick ist das Übersetzungsprogramm DeepL direkt in die Redaktionssoftware integriert. Journalistinnen und Journalisten am Desk übernehmen die Aufgabe, scheibt Ringier. Ihre Namen werden nicht erwähnt. «Wir sind der Meinung, dass die journalistische Leistung in erster Linie darin besteht, Informationen zu sammeln und in einen Kontext zu stellen», so die Ringier Medienstelle.
Link zur Originalversion
Oft werden Texte aber nicht nur bloss übersetzt, sondern werden für das Zielpublikum adaptiert. Für die Leserschaft aus einer anderen Sprachregion braucht es je nachdem eine Kontextualisierung oder ergänzende Informationen. In diesen Fällen wird auch bei Blick und Tamedia die adaptierende Person in der Autorenzeile erwähnt.
Ringier weist darauf hin, dass bei der Lancierung von Blick Suisse Romande in 2021 die Originalversion mit jeweiligen übersetzten Artikeln verlinkt war. Diese Option wurde kaum genutzt und wurde entfernt, ebenso wie der systematische Hinweis, dass es sich um einen übersetzten Text handelt.