08.11.2024

Tamedia-Abbau

Tränen und «Solidarität»-Bier

Eine Handvoll Medienschaffende haben an einer «SOS-Veranstaltung» des ZPV am Donnerstagabend teilgenommen. Eine Person hat das Beratungsangebot in Anspruch genommen. Die Verzweiflung der Anwesenden war spürbar.
Tamedia-Abbau: Tränen und «Solidarität»-Bier
In den Tamedia-Redaktionen hätten viele die Motivation verloren, berichten Betroffene. (Bild: Keystone/Gaëtan Bally)

Der Zürcher Presseverein (ZPV) lud am Donnerstagabend zu einer «SOS-Veranstaltung» in Zürich ein. Medienschaffende von Tamedia und anderen von Sparmassnahmen betroffenen Unternehmen konnten sich vor Ort juristisch beraten lassen. Der ZPV wollte auch eine Gelegenheit bieten, «sich den angestauten Frust von der Seele zu reden».

Urs Thalmann, Geschäftsführer von Impressum, war aus Fribourg angereist, um die juristische Beratung zu gewährleisten. Vereinspräsidentin Fabienne Sennhauser, die auch Co-Präsidentin von Impressum Schweiz ist, war ebenfalls anwesend

Erschienen war eine Handvoll Redaktorinnen und Redaktoren von Tamedia, wie persoenlich.com vor Ort feststellen konnte. Eine Person nahm die juristische Beratung in Anspruch.

Enttäuscht sei sie über die geringe Teilnehmerzahl nicht, sagte Fabienne Sennhauser gegenüber persoenlich.com. «Es war uns wichtig, ein Zeichen zu setzen und Solidarität zu zeigen. Auch wenn wir nur einer Person helfen konnten, hat es sich gelohnt.»

«Müdigkeit und Ratlosigkeit»

Dass wenig Leute gekommen sind, liege an der «Müdigkeit und Ratlosigkeit» der Redaktorinnen und Redaktoren, vermutete die ZPV-Präsidentin, die selber bei Tamedia arbeitet. «Der Prozess des Abbaus dauert schon Wochen. Letzte Woche haben die Kündigungsgespräche stattgefunden. Die Leute sind wie in einem Vakuum.»

Auch bei den Gesprächen unter den Anwesenden war die Stimmung in den Tamedia-Redaktionen ein Thema. Als miserabel wurde sie beschrieben. Die Leute hätten keine Motivation mehr. Und dass die Redaktorinnen und Redaktoren von der Leitung immer wieder daran erinnert werden, dass sie aus Loyalitätspflicht sich nicht nach aussen zum Abbau äussern sollen, mache die Stimmung noch bedrückender. Nicht zuletzt die Tränen der gekündigten Person veranschaulichten, wie schwierig die Situation im Medienhaus ist.

Für diejenigen, die ihre Stelle behalten, sei die Verunsicherung auch gross. Es kämen immer noch regelmässig E-Mails von der Konzernleitung, was zeige, dass der Plan noch nicht ganz klar stehe.

Folgen für die Demokratie

Die Integration der lokalen Redaktionen in überregionale Redaktionen und der Anspruch, lokale Geschichten zu verfolgen, die landesweit relevant sein können, sorgen auch für Verwirrung. Für wen werden in Zukunft die Artikel geschrieben, fragen sich die Betroffenen.

Bei einem Bier mit dem zufällig treffenden Namen «Solidarität» diskutierten die Anwesenden auch darüber, wie sinnvoll die nach der Abbauankündigung lancierten Initiativen für den Erhalt des Lokal- und Kulturjournalismus sind.

Fast 40 Prozent der Journalistinnen und Journalisten machen sich Sorgen um ihr psychisches Wohlbefinden, erinnerte Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik an der ZHAW. Als langjähriges Mitglied des ZPV war er an der Veranstaltung ebenfalls anwesend. «Ich frage mich, was es für eine demokratische Gesellschaft bedeutet, wenn gestresste Journalistinnen und Journalisten zunehmend Angst verspüren, in eine prekäre Arbeitssituation zu rutschen.»

Rund zwei Stunden vor dem angekündigten Schluss der Veranstaltung entschieden die Organisatoren aufzuräumen. «Es kommt niemand mehr, oder?», fragte Fabienne Sennhauser. Auch im kleinen Rahmen hat der Austausch den Anwesenden sichtlich gutgetan.


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KOMMENTARE

David Tschirky.
09.11.2024 17:15 Uhr
Jahrelang den Auftrag nicht erfüllt, jetzt kommt halt die Rechnung. Diese Medien haben das alles selbst zu verantworten
Vinzenz Wyss
08.11.2024 14:43 Uhr
Ich habe die SOS-Veranstaltung in der leisen Hoffnung besucht, Journalist:innen würden sich mit Hilfe eines Berufsverbandes organisieren und über Coping-Strategien austauschen. In der Schweiz machen sich 12 Prozent der Journalistinnen und Journalisten Sorgen, innerhalb eines Jahres ihren Job zu verlieren. Das zeigt unsere ZHAW-Befragung von 2023 auch. Bei Kolleg:innen beobachtete Jobverluste sowie potenziell drohender sozialer Abstieg können eine ernste psychische Belastung darstellen. Ich halte so ein Angebot des ZPV für einen Austausch und individuelle Rechtberatung für wichtig. Umso erstaunter war ich, dass nur wenige Journalist:innen das Angebot des engagierten Vorstands in Anspruch genommen haben. War es naiv zu erwarten, dass sich angesichts der düsteren Situation in der Medienstadt Zürich mehr Journalist:innen an einer SOS-Veranstaltung solidarisch zeigten?
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