von Michèle Widmer
Der Medienwirbel um die sogenannten Corona-Leaks ist gross. Nachdem die «Arena» vom Schweizer Fernsehen die Sendung am Freitag zum zweiten Mal zu diesem Thema durchführte, wurden die Indiskretionen übers Wochenende aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet.
Nachfolgend ein Überblick über die Kommentare von Chefredaktoren und Kolumnisten:
SonntagsBlick-Chefredaktor Gieri Cavelty
«Indiskretionen sind nicht das Problem», titelt der SoBli-Chefredaktor im Editorial der aktuellen Ausgabe. Indiskretionen seien nicht das eigentliche Problem der Landesregierung. Sie seien lediglich ein Gradmesser für deren Formstand. Schliesslich habe es sie schon lange vor Covid und EU gegeben, schreibt er weiter. Ein erklärter Feind von Indiskretionen sei der heutige Bundesratssprecher André Simonazzi. Aber auch seine Bemühungen, das Bundesratszimmer von der Aussenwelt abzuschotten, seien ins Leere gegangen. Cavelty ist überzeugt: «Der Kampf gegen Lecks ist reine Symptombekämpfung und in etwa so Erfolg versprechend wie die repressive Drogenpolitik früherer Tage, die das Drogenproblem bekanntlich nicht gelöst, sondern nur verschlimmert hat.» Und weiter: «Anstatt sich wie heute geheimniskrämerisch zu geben und die Medien krampfhaft an der kurzen Leine führen zu wollen, wäre Vizekanzler Simonazzi als Kommunikationsverantwortlicher der Landesregierung gut beraten, deren Politik besser zu erklären.» Der Bundesrat selbst sollte das Kollegialitätsprinzip neu interpretieren. Dazu gehörte gerade in Fällen von besonderer Tragweite offizielle Transparenz darüber, wie Entscheidungen zustande gekommen sind.
Arthur Rutishauser, Chefredaktor Tamedia
«Lässt sich unser Bundespräsident zum Clown machen?», fragt Arthur Rutishauser, Tamedia-Chefredaktor in der SonntagsZeitung. Die Herausforderungen des Ukraine-Krieges würden immer grösser – auch für die Schweiz. Der Bundesrat müsse endlich geeint und stark auftreten, doch mit Alain Berset an der Spitze werde das leider schwierig. Berset habe selber nicht gerade gut ausgesehen, als er sich für den Ringier-Verlag für fast jeden Gag einspannen liess. Während sich in der Ukraine ein ehemaliger Komiker zu einem international bewunderten Präsidenten gewandelt hat, erleben wir in der Schweiz das Gegenteil: ein beliebter Staatsmann, der sich für einen Zeitungsverlag zunehmend zum Clown mache. Bersets Macht, sich im Bundesrat durchzusetzen, sei dahin, folgert Rutishauser. Und auf dem internationalen Parkett werde einem machtlosen Bundespräsidenten die nötige Autorität leider fehlen.
Markus Somm, Chefredaktor Nebelspalter
«So zerstört man Institutionen» schreibt Markus Somm, Chefredaktor vom Nebelspalter, in seiner Kolumne in der SonntagsZeitung. Seine These: «Die Corona-Leaks sind keine Bagatelle, sondern eine Staatskrise. Alain Berset kann sie jederzeit beenden, indem er zurücktritt.» Manchen sei nicht bewusst, wie gravierend Laueners Verrat sei; wie kritisch es um Bersets Stellung stehe. Das liesse sich an der offiziellen Erklärung des Bundesrats erkennen, wo Bersets Rücktritt bereits vorbereitet worden sei: «Gestützt auf die Angaben des Bundespräsidenten, der versichert hat, von solchen Indiskretionen keine Kenntnis gehabt zu haben, wird der Bundesrat die Geschäfte auf der Grundlage des wiederhergestellten Vertrauens weiterführen», hiess es. Laut Somm heisse das im Klartext: «Sollte auch nur ein Beweis auftauchen, dass Berset um Laueners unorthodoxe Kommunikationspolitik wusste, dann muss er gehen.» In Bern glaube übrigens so gut wie niemand daran, dass Berset, ein pedantischer Chef, nicht im Bild war. Somm zieht Vergleiche zur Privatwirtschaft: Berset könne sich glücklich schätzen, dass man bei ihm nicht die gleichen Massstäbe anlege. Wer Untergebene führe, sei am Ende immer für ihre Taten verantwortlich.
Aline Wanner, Redaktionsleiterin NZZ Folio
«Journalisten als willige Handlanger» titelt NZZ-Folio-Redaktionsleiterin Aline Wanner in der Medienkolumne in der NZZ am Sonntag. Journalisten würden oft allzu unkritisch veröffentlichen, was Beamte und Berater ihnen zutragen – so wie diese es sich wünschen, führt Wanner aus. Der Grund: «Es lockt die exklusive Meldung.» Niemand verlange von Journalisten, Quellen offenzulegen. Aber es sei auch nicht verboten, darüber nachzudenken, was für Motive jene hätten, die Geheimes weitergeben würden – und darüber während der Recherche und auch im Artikel oder im Beitrag zu reflektieren. Häufig wünsche sich der Absender aber genau das nicht. Und gebe dann beim nächsten Mal die Informationen wieder einem Journalisten, der ihm willig folge.
Daniel Binswanger, Feuilleton Co-Leiter Republik
«Wer zerstört das Vertrauen?», fragt sich Daniel Binswanger in seinem Wochenkommentar bei der Republik. Die Corona-Leaks-Affäre setze eine neue «Benchmark der Schäbigkeit», schreibt er. Sie belege auf beunruhigende Weise, dass es keine Institution mehr gebe im Land, die nicht für machtpolitische Intrigen missbraucht werden könnte. Es müssten nur die Einsätze gross genug sein. In diesem Wahljahr seien sie es. Binswanger verteilt den Schweizer Medien in Sachen Berichterstattung über die Ereignisse gute Noten. Republik, WOZ sowie die Tamedia-Zeitungen hätten über die Hintergründe schon einiges zutage gebracht. Binswanger weiter: «Eine Enttäuschung stellen nur die CH-Media-Titel dar, die sich unter Chefredaktor Patrik Müller von biederen, aber gemässigten Publikationen mehr und mehr zum parteipolitischen Sturmgeschütz entwickeln.» Müller werfe sich in die Pose des um Aufklärung bemühten Journalisten, doch Aufklärung über den politischen Hintergrund der Affäre und darüber, weshalb die Lauener-E-Mails an ihn geleakt worden seien, scheine sein Anliegen nicht zu sein. Ob Leaks nun gut oder skandalös sind, hänge für Müller offensichtlich davon ab, wem sie schadeten.
Philipp Loser, Inlandredaktor Tamedia
Philipp Loser, Inlandredaktor bei Tamedia, stellt in seiner Kolumne im Das Magazin am Samstag die Frage: «Sind wir Medien zu wenig kritisch?». Die Corona-Leaks sorgten für maximale Aufregung – bei Journalistinnen und Journalisten. Bei allen anderen sei das Erstaunen eher mässig. Wer sich im Bekanntenkreis umhöre oder die Kommentare unter den Texten zum Thema lese, der erkennt drei verschiedene Reaktionen: die Resignierten, die immer schon wussten, dass Medien und Politik klüngeln, die Zynischen, die auf die Mechanik der Macht hinweisen und die Hässigen, die sich bestätigt fühlen. «Siehst du! Der Bundesrat diktiert, die Journalisten schreiben. Dieses Pack.» Loser führt weiter aus: «Dabei ist es nicht das Gleiche, ob ein Bundeshausjournalist verschiedene Quellen bearbeitet und unregelmässig etwas gesteckt erhält oder ob ein hochrangiger Kommunikationsberater den Chef des vielleicht einflussreichsten Medienunternehmens systematisch über mögliche Bundesratsentscheide informiert.» Das Erste sei Arbeit, oft mühselige und harte Arbeit. Das Zweite wäre ein arrogant-dreister Missbrauch der eigenen Macht, so Loser. Das Bild, das dabei entstehe, schade der Glaubwürdigkeit aller Journalistinnen und Journalisten.