«Wir wollen die Debatte lancieren»

Blick - Dürfen Medien Bilder über das Sterben zeigen? Christian Dorer, Chefredaktor der Blick-Gruppe, rechtfertigt im Interview die Berichte über die SRF-Sendung «Mona mittendrin» und gibt zu, dass die Bezeichnung «SRF-Star» auf der Front zu zugespitzt war.

von Michèle Widmer

Herr Dorer, «SRF-Star stirbt vor SRF-Kamera»: Kaufen deshalb wirklich mehr Leute den «Blick»? Oder was konkret bringt eine solche Berichterstattung Ihrer Zeitung?
Nein, die Leute kaufen deswegen nicht mehr Zeitungen. Unsere Überlegung ist auch eine andere: Wir berichten über das, was die Menschen in unserem Land bewegt. Ob SRF einen sterbenden Menschen zeigen soll oder nicht, hat aufgrund unserer Berichterstattung eine riesige Debatte ausgelöst. Wir selber haben in diesem spezifischen Fall übrigens keine klare Meinung, deshalb haben wir ein redaktionelles «Pro» und «Contra» publiziert.

In einem ersten Artikel werfen Sie SRF vor, einen toten Mann vor laufender Kamera zu zeigen. Daraufhin entschärft SRF die Stellen im Film (persoenlich.com berichtete) – und nun zeigen Sie den Verstorbenen unverpixelt mit Foto und Namen prominent auf der «Blick»-Front (siehe unten). Ist das nicht etwas scheinheilig?
Es war kein Vorwurf, sondern eine Feststellung. Wir haben die Debatte lanciert, worauf SRF den Mann stärker verpixelt hat. Dann haben wir recherchiert und innert Kürze herausgefunden, dass es sich beim Verstorbenen um den bekannten Waldmenschen Fer Werthmüller handelt, den SRF in früheren Sendungen bekannt gemacht hat. Wir hätten auch bei normalen Umständen über seinen Tod berichtet. Hingegen hätten wir die Identität einer unbekannten Person nicht publik gemacht. Und selbstverständlich zeigen wir den Mann unverpixelt nur lebendig, auf früheren Aufnahmen, die einst in den Medien erschienen sind.


Wo liegt hier das öffentliche Interesse?
Wie gesagt: Es handelt sich um eine Person, die verschiedentlich im TV und in Zeitungen war und auch unseren Leserinnen und Lesern bekannt war.

Sie bezeichnen den Verstorbenen als «SRF-Star». Ist das nicht absolut übertrieben?
«Star» mag vielleicht etwas übertrieben sein, «der bekannte Waldmensch» wäre treffender gewesen.

«Es ist eine SRF-Geschichte, keine ‹Blick›-Geschichte»

Der Mann hatte vor acht Jahren einen Auftritt bei «Schweiz aktuell».
Der Verstorbene hat als Aussteiger in der Schweiz Bekanntheit erlangt. Ob er deswegen ein Star ist oder nicht, kann man diskutieren, aber darum geht es nicht bei der Debatte, sondern darum, ob SRF die Bilder hätte zeigen sollen – und falls ja, ob SRF nicht wenigstens die Angehörigen vorgängig hätte kontaktieren müssen. Das sind die entscheidenden Fragen. Es ist eine SRF-Geschichte, nicht eine «Blick»-Geschichte.

Wie hitzig war die Debatte an der Redaktionssitzung darüber, ob «Blick» diese Geschichte so bringen soll oder nicht?
Für uns war von Anfang an klar, dass wir die Debatte lancieren wollen, ob SRF das Sterben eines Menschen zeigen darf oder nicht. Die weiteren Artikel konnten wir nicht planen, die haben sich einer nach dem anderen ergeben: Zuerst fanden wir heraus, wer der Tote ist. Dann sprachen wir ausführlich mit den Angehörigen, und die zeigten sich empört darüber, dass SRF sie vorgängig nicht kontaktiert hat. Denn wer den Toten und die Todesumstände im Migros-Gebäude kannte, der erkannte ihn natürlich auch im Film. 

«Im Grundsatz sollte auf Bilder von Sterbenden verzichtet werden»

Welche Argumente für und gegen die Publikation wurden an der Redaktionssitzung eingebracht?
Wir hatten keine Argumente gegen die Publikation der Geschichte.

Medienprofessor Vinzenz Wyss ist verärgert über Ihr Vorgehen. Sie hätten ihn für die Berichterstattung als «Alibi-Experten für eigene Zwecke instrumentalisiert», schreibt er auf Twitter. Was sagen Sie dazu?
Ich kann diesen Vorwurf nicht nachvollziehen, und er hat ihn auch nicht präzisiert. Wir haben ihn gefragt, inwieweit sterbende Menschen von Medien gezeigt werden dürfen. Seine Position dazu haben wir unverfälscht publiziert.


Ganz grundsätzlich: «Sterbende Menschen zeigen oder nicht?» Was ist Ihre Meinung als «Blick»-Chefredaktor zu dieser Frage?
Keine Regel ohne Ausnahme, aber im Grundsatz sollte darauf verzichtet werden. Das sieht der Journalistenkodex so vor und das ist auch die heutige Policy der Blick-Gruppe. Zur Dokumentation dieser SRF-Geschichte haben wir uns dafür entschieden, Ausschnitte aus dem SRF-Dok zu zeigen, die erst aufgrund unserer Berichterstattung gepixelt wurden. Dies, damit die Diskussion nicht im Abstrakten bleibt.



Christian Dorer hat die Fragen schriftlich beantwortet.